Künstler | Callejon | |
Album | Fandigo | |
Label | People Like You Records | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Fandigo? Der Titel des siebten Studioalbums von Callejon ist wohl erklärungsbedürftig. Es handelt sich um eine Wortschöpfung der Düsseldorfer Band, die darin die Begriffe „Fan“ und „Wendigo“ kombiniert, Letzteres ist ein indianisches Fabelwesen mit Hang zum Kannibalismus. Der Fandigo, der zum Abschluss der Platte in Fandigo Umami besungen wird, ist somit ein Fan, dessen Enthusiasmus so weit geht, dass er die von ihm bewunderten Idole aufessen möchte.
Callejon, die in diesem Jahr ihr 15. Bandjubiläum feiern, könnten da eventuell aus eigener Erfahrung sprechen. Schließlich zeigen Lieder wie Powertrauer und letztlich das gesamte Album, wer ihre wichtigste Zielgruppte ist: emotional labile junge Menschen. Die müssen zwar nicht gleich Menschenfresser sein, werden hier aber mit reichlich Zeilen wie „Meine Seele ist versperrt“, „Ich wünschte mir, ich wäre ein Stein im tiefsten Berg“, „Ich brenne / ich lösche mich aus“, „Drückst du deine Maske auf mich / bin ich leider immer noch ich“ oder „Ich atme ein, und atme aus / ich fühle mich so leer / es ist, als wäre alles taub“ abgeholt.
Die Gefühlswelt der Fans von Callejon könnte durch diese Platte durchaus noch etwas tumultuöser werden. Denn Bastian „BastiBasti“ Sobtzick (Gesang), Thorsten Becker (Bass), Bernhard Horn (Gitarre), Christoph „Kotsche“ Koterzina (Gitarre) und Maximilian „Kotze“ Kotzmann (Schlagzeug) wenden sich hier recht deutlich vom bisherigen Metalcore-Sound ab und integrieren viele neue Elemente in ihren Sound, vor allem softere und elektronische Klänge. „Wir waren ein bisschen gelangweilt von uns selbst“, erklärt Sänger Bastian Sobtzick diesen neuen Ansatz. „Also haben wir uns Fragen gestellt: Wer sind wir, wollen wir weiter die harte Metalcore-Band sein, haben wir überhaupt noch etwas zu sagen?“
Das Ergebnis: Monroe ist als fünfter Track der Platte das erste Lied, das man in Fachkreisen wahrscheinlich „ein Brett“ nennen würde. Pinocchio ist einer der wenigen Momente, in denen es das traditionelle Growling gibt. Stattdessen findet man auf Fandingo einige Referenzen, die man bisher bei Callejon nicht für möglich gehalten hätte. Gleich der Auftakt Der Riss in uns zeigt die neue Richtung sehr deutlich, der Gesang ist nahe an Schmusebarden wie etwa Philipp Poisel, der Sound mit sanftem Gitarrenpicking ebenfalls. Vielleicht als Feigenblatt ist davor eine Computerstimme platziert, die über die (Nicht-)Existenz Gottes spricht.
Die Single Utopia, die von einem Drogentrip als Flucht aus der Welt handelt, könnte das Ergebnis sein, wenn Rammstein jemals Joris als neuen Sänger verpflichten würden. Noch einmal, ebenfalls eine Single, würde gut zu den Toten Hosen (oder auf Festivalbühnen) passen, nicht nur wegen der „wohoho“-Passage, sondern auch wegen der darin artikulierten Sehnsucht nach dem vergänglichen Taumel der Jugend. Sollten Silbermond jemals mit Selbstmord kokettieren wollen, könnte ein Lied dabei herauskommen wie Mit Vollgas vor die Wand, das eine weitere dieser typischen Callejon-Zeilen enthält: „Ich mach mich kaputt / so lange ich noch kann / diesen Triumph gönne ich nur mir selbst.“
Selbsthass und eine einsame Verzweiflung sind noch immer die prägenden Gefühle in dieser Welt, wie es schon der Titel des Vorgänger-Albums Wir sind Angst (2015) angedeutet hat. „Damals ging es um die blanke Wut“, sagt Sobtzick im Rückblick. „Wir hatten uns die Frage gestellt, was Angst mit der Gesellschaft macht. Wie wir heute sehen: Sie zerfällt. Das hat uns damals so wütend gemacht, dass wir dieses Gefühl komplett zugespitzt haben: Wir sind scheiße, ihr seid scheiße, alles ist scheiße.“
Das führt auf Fandigo, bei dem Callejon erstmals auch selbst produziert haben („Die Produktion hat mich an die Anfangszeit von Callejon erinnert, wo alles so neu und aufregend war. Ich konnte teilweise nachts nicht schlafen, weil ich so aufgeregt war und alles so geil fand, was wir machen. Dieses Gefühl hatten wir schon lange nicht mehr“, sagt „BastiBasti“), zu einer Vorliebe für eine Märtyrer-Pose, wie man sie etwa von Depeche Mode kennt, die von den Düsseldorfern tatsächlich als wichtige Einflüsse für die neue Platte benannt werden. Einem Song wie Hölle Stufe 4 hört man das an, darin wird der Weg in den Abgrund geschildert wie einst bei Dante Alighieri, statt Vergil scheint hier allerdings Heroin der Wegweiser zu sein.
Mein Gott ist aus Glas macht deutlich, dass auch Religion keinen Trost bietet, schon gar keine Garantie auf Glück. Das Instrumental 11°19′0′′N, 142°15′0′′O (das sind die Koordinaten des Challengertiefs im Mariannengraben) leitet über zu Nautilus mit dem Wunsch: „Hier will ich begraben sein mit dir / denn hier trocknen unsere Tränen nie.“ Eine ähnliche Konstellation gibt es beim ebenfalls instrumentalen ∅ als Quasi-Vorspiel für Das gelebte Nichts, in dem vielleicht Depression das Thema ist, in jedem Fall die Schwierigkeit, den verlogenen Optimismus ringsherum zu ertragen oder gar selbst zu simulieren.
Das Kernproblem dieses Albums (und dieser Band) ist dabei gar nicht der Wandel hin zu einem weniger harten und etwas vielseitigeren Sound. Vielmehr bleiben Callejon in ihrer Verzweiflung stecken. Sie erkennen sehr wohl, dass man etwas tun sollte, aber sie wissen nicht was. „Vor drei Jahren haben wir gedacht: Wenn das und das wirklich passieren sollte, ist alles am Arsch“, sagt Sobtzick beim Blick auf Trump, Brexit und den Erfolg der AfD. „Heute muss man leider sagen: Diese Dinge sind alle passiert und wir sind wirklich ziemlich am Arsch. Wir können und wollen vor diesem Hintergrund keine Partymucke schreiben“, erklärt er. Was er stattdessen schreibt, sind allerdings bloß Lieder mit Pseudo-Bedeutung. So lange es nach existenziellem Schmerz klingt, ist nicht mehr so wichtig, ob es Sinn macht: „Ich ficke meine Seele“, „Am anderen Ende steht ein weißes Pferd / doch in diesem dunklen Raum sehe ich es kaum“, „Erwachsen sein, um alt zu werden, ist immer noch nicht leicht“, „Sterben ist normal“, „Meine Worte sind verzerrt, weil sie niemand wirklich hört“ sind Beispiele dafür.
Die Welt ist scheiße, lautet die zutreffende Erkenntnis, aber es gibt auf Fandigo keine Analyse, woran das liegt. Die Lieder geben sich mit (geteiltem) Selbstmitleid zufrieden, und das kommt letztlich einer Kapitulation gleich. „Ich kann mich nicht leiden und leide darunter, ich weiß, dass ein Teil der Ursache eben diese Scheißwelt ist, ein Teil der Ursache aber auch in mir steckt“, lautet die Perspektive in praktisch allen Songs. Aber sie verweigern sich der Aufgabe, dem auf den Grund zu gehen, um das Leiden vielleicht überwinden zu können. Der Verdacht liegt nahe, dass hier die Intelligenz und/oder die Reife fehlt, um diesen entscheidenden Schritt zu gehen. Die Musik von Callejon, die sich vielleicht als Aufschrei oder gar Appell zur Revolte versteht, wird damit vielmehr ein Sedativum.