Hingehört: Cerrone – „Best Of Cerrone Productions“

Künstler Cerrone

Plattencover an der Grenze zur Pornographie haben Tradition bei Cerrone.
Plattencover an der Grenze zur Pornographie haben Tradition bei Cerrone.
Album Best Of Cerrone Productions
Label Because
Erscheinungsjahr 2015
Bewertung

Die offizielle Version geht so: Mark Cerrone wird 1952 als Sohn italienischer Einwanderer in der Nähe von Paris geboren. Er veröffentlicht 1976 seine erste Solo-Platte, ist dann ziemlich erfolgreich und gerät schließlich in Vergessenheit.

Die inoffizielle Version ist wahrscheinlich viel näher an der Wahrheit: Mark Cerrone wird in einer Zeitrechnung geboren, in der immer Samstagnacht ist, an einem Ort namens „Boogie Wonderland“. Und er hat Disco erfunden.

Der letzte Satz ist wohl etwas übertrieben, denn diese Ehre muss der Franzose mindestens mit ein paar anderen teilen. Beachtliche Wertschätzung genießt er dennoch. Er hat 30 Millionen Platten verkauft. Er hat 1977 einen Grammy für seinen Megahit Love In C Minor bekommen. Und Nile Rodgers, als Gründer von Chic selbst nicht ganz unbedeutend für das Disco-Genre, sagt: „One of the coolest things in my life was when I first heard Cerrone’s music. His contribution to the whole electronic/disco/dance music may be as important as Giorgio Moroder, as Kraftwerk.” Nach Zählung seiner Plattenfirma wurden Cerrones Tracks innerhalb der letzten 20 Jahre insgesamt 171 Mal gesamplet (unter anderem von Bob Sinclar, Sébastien Tellier und The Prodigy). Höchste Zeit also für eine Neuauflage seiner wichtigsten Alben und eine Werkschau, der sich das französische Because-Label nun annimmt.

Best Of Cerrone Productions hört man in keinem Moment an, dass hier eine Zeitspanne von mehr als 30 Jahren abgedeckt ist. Die ältesten Songs stammen von den Kongas, der Band, mit der Cerrone seine ersten Platten aufnahm und die 1974 ihr Debüt vorlegte. Zu den neusten Stücken gehört die 2009er Single Tattoo Woman. Verbunden ist das alles durch die Überzeugung, dass es auf der Welt keinen besseren Ort gibt als die Tanzfläche. Man erkennt innerhalb dieser 38 Tracks einige musikalische Motive wieder, Melodien oder Bassfolgen, die für mehrere Songs genutzt werden. Verwerflich ist das nicht: Was Cerrone macht, ist im positiven Sinne Gebrauchsmusik, und der angestrebte Zweck heißt: Die Füße sollen glühen, die Gesichter auch.

Wenige Tracks machen das so sehr deutlich wie das schon erwähnte Love In C Minor von Cerrones erstem Soloalbum aus dem Jahr 1976. Noch nie hatte ein Song bis dahin so provokant den „four-to-the-floor“-Beat in den Vordergrund gestellt, mit einer Bass-Drum, die keine Gnade kennt und nur eine Richtung: zur Tanzfläche. Dazu stöhnt eine Frauenstimme und jubilieren die Streicher – im Original (auf Best Of Cerrone Productions sind durchweg nur Edits der Tracks vertreten) rund eine Viertelstunde lang.

Das war damals nicht nur enorm erfolgreich (das Album verkaufte sich drei Millionen Mal), sondern auch durchaus innovativ. Das gilt genauso für den noch größeren Hit: Supernature (1977) setzte bis heute acht Millionen Einheiten ab und hat unter anderem Run DMC und die Beastie Boys so sehr beeindruckt, dass sie es gesamplet haben. Dass der Song just in dem Jahr erschien, in dem auch das Studio 54 eröffnete (wo Cerrone damals gerne feierte), passt wunderbar: Viel näher kann man dem Prototyp von Disco nicht mehr kommen.

Den Soundkoordinaten des Genres folgen fast alle Tracks auf dieser Greatest-Hits-Sammlung. Der Bass in Got To Have Lovin’ von Don Ray behauptet einigermaßen glaubwürdig, er habe das Konzept „funky“ höchstselbst erfunden. Midnite Lady rückt die obligatorischen Streicher und Bläser in den Fokus, Your Love Survived setzt auf Bee-Gees-Chöre, Why Can’t We Live Together von den Kongas glaubt (mit dem Aufruf „No more war!“) offensichtlich felsenfest an den Discofox als Mittel der Völkerverständigung.

Look For Love bietet ein Schlagzeug- und Percussion-Solo, Cerrone’s Paradise ist vielleicht die Sorte von Lied, die die Kinder von Shaft im Schulchor einstudieren. Selbst The House Of The Rising Sun (von Revelacion) klingt mit Cerrone als Produzent so, als sei es nie etwas anderes gewesen als ein Disco-Track mit kitschigem, südländischen Flair.

Über eine Spielzeit von weit mehr als zwei Stunden klingt das manchmal wie ein Megamix für die Ü-50-Party. Den Hang zur Austauschbarkeit verstärkt auch die Tatsache, dass die Texte (bis auf wenige Ausnahmen wie Supernature) quasi non-existent sind. Es gibt Wörter, die gesungen werden, aber bloß, weil es auf Dauer wohl zu öde wäre, wenn man immer bloß „bababa“ aus dem Mund von betörenden Frauenstimmen hören würde, und weil es dann schwierig würde, den einzelnen Tracks noch halbwegs wieder erkennbare Namen zu geben. Die Slogans suchen den kleinsten gemeinsamen Nenner, die Botschaften heißen „We’ve got to stick together!“, „Love me!“, “Call me tonight!” oder “Give me love!”

Allerdings hat Best Of Cerrone Productions auch zwei große Qualitäten zu bieten, die diesen Eindruck nie allzu stark werden lassen. Die erste ist der Ehrgeiz von Mark Cerrone. Seine Lebensgeschichte unterstreicht, wie leidenschaftlich er seine Musik betreibt. “Als ich 12 war, habe ich andauernd auf den Schulbänken getrommelt. Ich wurde überall rausgeworfen. Dann hat mir meine Mutter schließlich ein Schlagzeug gekauft, damit ich meine Energie daran ausleben kann”, erzählt er. Zwei Jahre später brach er die Schule ab, um stattdessen lieber mit seiner ersten Band auf Tour zu gehen.

Als 21-Jähriger machte Cerrone seinen ersten Plattenladen in Paris auf, das Geschäft lief so gut, dass er innerhalb eines Jahres vier weitere eröffnet. Mit dem dort verdienten Geld bezahlte er Freunde, um die Platten mit seiner eigenen Musik zu kaufen und so einen Hype zu generieren – was blendend funktionierte. Schnell war er auch in Amerika eine große Nummer, und er genoss den Ruhm: Die Bilder und Plattencover aus seiner erfolgreichsten Zeit zeigen ihn meist mit Schnauzbart und offenem Hemd, einmal vor einem Kühlschrank, auf dem eine nackte Frau liegt, die offensichtlich gerade ein Glas mit einer beträchtlichen Menge eines weißen Pulvers verschüttet hat.

Als er längst nicht mehr so viele Platten verkaufte wie in den 1970ern, erfand sich Cerrone als Livekünstler neu und spezialisierte sich auf Mega-Events. 1988 beauftragte ihn der damalige französische Kulturminister Jack Lang mit dem Riesenkonzert „The Collector“ am Trocadéro. Im Jahr darauf trat Cerrone – aus Anlass des zweihundertsten Jubiläums der Französischen Revolution – vor 600.000 Menschen am Place de la Concorde auf. 1991 wurde in Tokio der Start des ersten japanischen HD-Fernsehsatelliten gefeiert, Cerrone sorgte für die Musik, vor 800.000 Zuschauern.

Diesen Drang, sich zu beweisen, hört man auch seinen Songs an, denn längst nicht alles auf Best Of Cerrone Productions ist Disco nach Schema F. Das trifft auf die Lieder zu, die er für den Soundtrack des Films Brigade Mondaine (1978) gemacht hat. Aber auch auf das instrumentale Phonic von Cristal. In The Smoke würde man heute ebenfalls viel eher den Stempel “Elektronika” verpassen als “Pop”.

Die zweite Qualität ist Cerrones Fähigkeit, neue Trends mit seinem Markenzeichen-Sound zu verschmelzen. Club Underworld aus dem Jahr 1983 wartet beispielsweise mit Sprechgesang auf, Cycle’s Woman integriert Latin-Elemente. Striptease, einer der Beiträge aus dem Brigade Mondaine-Soundtrack, klingt modern und ambitioniert und deutet an, dass die Verbindung von Cerrone beispielsweise zu Daft Punk nicht nur eine geografische ist.

Wie modern dieser Sound (wieder) ist, zeigt nicht zuletzt der Track, der Best Of Cerrone Productions sicher die meiste Aufmerksamkeit einbringen wird: Beth Ditto hat gemeinsam mit der französischen Electrorock-Combo The Shoes eine neue Version von Supernature aufgenommen. Bei ihr bekommt der Track noch ein ganzes Stück mehr Glamour und Dramatik. Seine Heimat bleibt allerdings gleich. Es ist der Dancefloor.

Klingt nach Dur: Love In C Minor von Cerrone.

Homepage von Cerrone.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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