Chastity Belt – „I Used To Spend So Much Time Alone“

Künstler Chastity Belt

I Used to Spend So Much Time Alone Chastity Belt Kritik Rezension
Auf ihrem dritten Album sind Chastity Belt deutlich ernster geworden.
Album I Used To Spend So Much Time Alone
Label Hardly Art
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Es gibt eine Szene im aktuellen Anti-Kriegsfilm Dunkirk, die auf den ersten Blick nichts mit dem dritten Album von Chastity Belt zu tun hat, bei genauerer Betrachtung aber sehr gut zu I Used To Spend So Much Time Alone passt.

Tommy, ein englischer Soldat und Held des Films, ist darin mit seinen Kameraden am Strand von Dünkirchen in einer Sackgasse. Der Feind rückt immer näher, die einzige Fluchtmöglichkeit ist der Seeweg über den Ärmelkanal in Richtung Heimat. Am Horizont sieht Tommy ein Schiff, das ihn dorthin bringen könnte. Es erscheint wie ein verheißungsvoller Trost, doch dann erkennt der Soldat, wie trügerisch diese Hoffnung ist: Das Boot, auf dem zig Soldaten wie er schon an ihre Rettung geglaubt hatten, wird von einem Torpedo getroffen und sinkt. Tommy erkennt: Nichts ist eine Hoffnung, bevor man nicht wirklich und wohlbehalten zuhause ist.

Es ist eine ganz ähliche Perspektive, aus der Chastity Belt auf I Used To Spend So Much Time Alone singen: Sie sind unverschuldet in einer ausweglosen, verzweifelten Situation, und sie haben schon ein paar Mal zu oft erlebt, wie schmerzhaft es sein kann, sich falsche Hoffnungen zu machen. „Fucked up, anxious, full of fear / how did I get here?“, heißt die Frage in This Time Of Night. „I just fall on my face / when I’m trying to have fun“, lautet die Erfahrung von Complain. „I wonder what it feels like not to care“, wird in It’s Obvious als mögliche Lösung angedacht, doch daraus spricht bereits das Wissen, dass man auch selbst zur Monotonie des Alltags und zum eigenen Versagen beiträgt.

Depression und das Gefühl, einfach nicht klarzukommen in dieser Welt, war schon immer ein wichtiges Thema in der Musik von Julia Shapiro, Gretchen Grimm, Lydia Lund und Annie Truscott. Doch anders als auf dem Debütalbum 2013 und dem zwei Jahre später veröffentlichten Time To Go Home geht es auf ihrem dritten Longplayer, der mit Produzent Matthew Simms (Wire) live in Portland, Oregon, aufgenommen wurde, wirklich ans Eingemachte. “I wanna be sincere”, wird das in Used To Spend ganz explizit benannt, und Zeilen wie die oben angeführten zeigen, was damit gemeint ist. Der Quasi-Titelsong thematisiert wieder eine verpasste Chance, wieder eine Gelegenheit, die trotz günstigster Voraussetzungen durch eigene Angst verpatzt wurde. Den im Bandnamen angeführten Keuschheitsgürtel braucht das Quartett aus Seattle offensichtlich gar nicht, um sich vor der Möglichkeit von Sex zu schützen – die Neurosen erledigen das schon von ganz alleine.

Wer nun glaubt, die Musik von Chastity Belt sei die akustische Entsprechung eines Trauerkloßes, liegt natürlich falsch. Die Band hat rund um ihre Vorliebe für intimste Bekenntnisse und Fuck-Off-Attitüde eine sehr eigene Ästhetik entwickelt. Sie vermengen Schlafzimmer und Garage, Hormone und Lo-Fi, Shoegaze und Punk. Wie energisch das sein kann, zeigt etwa das kraftvolle 5am mit viel Lust auf Lärm, vielleicht sogar auf Tanzen, auch wenn die nicht ausgelebt wird angesichts eines Gefühls, man sei „out of touch with reality“. Auch den Humor, der auf den ersten beiden Alben ein wichtiges Element war, haben Chastity Belt auf I Used To Spend So Much Time Alone nicht vollends verloren. Wenn sie beispielsweise in Something Else feststellen, dass weder ihr Tagesablauf noch ihre Gedankenwelt oder ihre Ansprüche ans Leben zur Norm passen, dann lautet die Schlussfolgerung eben: „Maybe I’m an idiot.“

What The Hell hingegen wirft sich in die Einsamkeit, die sich noch ein bisschen trauriger anfühlt, wenn man genau weiß, wer sie am besten beseitigen sollte. Caught In A Lie spricht die Hörer direkt an, auch Stuck, das von Schlagzeugerin Gretchen Grimm gesungen wird, die das Stück auch geschrieben hat, wirkt ein bisschen wie eine ins Liedformat gegossene Lebensberatung. Trost für die Leidensgenossen ist eindeutig ein wichtiges Versprechen dieser Band, wie schon Different Now ganz am Beginn des Albums zeigt. Das Grundgefühl heißt: Ich bin unzureichend. Doch die Musik dazu ist vergleichsweise heiter und könnte mit etwas mehr Tempo beispielsweise von den Shout Out Louds sein. Dahinter steckt wohl die Hoffnung, den Nebel der eigenen Beklemmung irgendwann verlassen zu können, und das Versprechen: Irgendwann wirst du dazugehören.

Sich gegenseitig beizustehen, kann auch schon helfen, zeigt das Video zu Used To Spend.

Chastity Belt bei Facebook.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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