Chvrches – „Every Open Eye“

Künstler Chvrches

Albumcover Chvrches "Every Open Eye".
Alles selbst gemacht haben Chvrches auf „Every Open Eye“.
Album Every Open Eye
Label Capitol
Erscheinungsjahr 2015
Bewertung

Lauren Mayberry hat eine sehr schöne Stimme. Man sollte das für selbstverständlich halten, schließlich ist sie Sängerin in einer Band. Aber zuletzt hat die Frontfrau von Chvrches so viel damit zu tun, Heiratsanträge während ihrer Liveshows abzuwehren, Einladungen zu Sex auszuschlagen, die ihr via Facebook regelmäßig zugehen, und sich grundsätzlich dagegen zu wehren, dass man es sich als gutaussehender Popstar anscheinend automatisch gefallen lassen muss, in einer Community, die sich vorrangig mit dem Tauschen von Promi-Nacktfotos beschäftigt, wie ein Stück Fleisch behandelt zu werden, dass es schon mal in Vergessenheit geraten konnte.

Every Open Eye, das gerade erschienene zweite Album von Chvrches, bringt dieses Tatsache zurück in Erinnerung. Im wundervollen Afterglow ist ihre Stimme zum Verlieben schön, in Down Side Of Me ist sie auch von Auto-Tune nicht kaputt zu kriegen, in der Single Leave A Trace strahlt sie noch heller, weil ab und zu auch Bandkollege Martin Doherty ans Mikro darf.

Noch in einer weiteren Hinsicht ist dieser Hinweis auf den Gesang zentral. Denn manchmal klingen die Lieder auf Every Open Eye so sehr nach Hit, dass es ohne diese Stimme nicht mehr Chvrches wäre, sondern einfach bloß ein Hit von irgendwem – Kim Wilde kommt dabei genauso infrage wie Ellie Goulding. Es ist der Gesang, der Chvrches in diesen Momenten ihre Identität verleiht.

Gegen Hits ist ansonsten natürlich nichts einzuwenden, und das Trio aus Glasgow liefert reichlich davon. Nach dem Erfolg des Debüts The Bones Of What You Believe (2013), das sich weltweit insgesamt 500.000 Mal verkaufte, und ziemlich erstaunlichen 364 Live-Shows in nur zwei Jahren haben Chvrches offensichtlich erkannt, dass ihre bisherige Herangehensweise nicht ganz verkehrt war. Also sind sie wieder ins eigene Studio gegangen und haben dort alles selbst gemacht, auch wenn es reichlich Angebote von ziemlich prominenten Namen zur Unterstützung gab. „As we were making this album, a bunch of people offered to write with us, but we wanted to be an actual band“, hat Martin Doherty erzählt, als Chvrches während der Aufnahmen von Pitchfork im Studio besucht wurden. „Keeping it unreal“ war der Artikel überschrieben, der daraus entstand, und damit sind wichtige Qualitäten der Platte angedeutet: Glamour, Fantasie, Eskapismus.

Den Auftakt des Albums macht die Single Never Ending Circles, und sofort ist man drin in einem Sound, der so schillernd, strahlend und unterhaltsam ist wie eine akustische Disneyworld. Aber der Schmerz, der in dieser Stimme steckt, ist echt, ebenso wie der Stolz hinter dem Kampfschrei „I don’t regret, I don’t regret.“ Auch Make Them Gold spielt mit diesem Mix aus Plastik im Sound und Ernsthaftigkeit, die unter anderem in der Warnung „Take care to bury all that you can / take care to leave a trace of a man“ steckt. Bei Playing Dead muss man beinahe an Baby-Popstars wie die junge Avril Lavigne denken, so viel Teenager-Leichtsinn und schamlose Unbekümmertheit stecken darin.

Fast alles ist mitreißend wie Empty Threat, überall ist eine bewundernswerte Liebe zum Detail zu entdecken wie in Bury It. Ein paar Songs ragen noch heraus: Keep You On My Side vereint eine tolle Melodie mit großartigem Drive und erstaunlichem Punch. Clearest Blue hat eine famose Dramaturgie und eine gute Dosis von Depeche Modes Just Can’t Get Enough. Ein wenig ärgerlich ist nur der Bonustrack Up In Arms: Das ist als Geschenk an die Fans vielleicht gut gemeint (und auch ein ordentlicher Song), ruiniert aber den malerischen und romantischen Schluss des Albums, für den zuvor Afterglow gesorgt hatte.

Und die Texte? Eine lyrische Watschn für frauenfeindliche Fans findet sich nirgends auf Every Open Eye, auch feministische Statements sind beim besten Willen nicht zu erkennen. Stattdessen liefern Chvrches herrliche romantische Pop-Zeilen wie „We will take the best parts of ourselves / and make them gold“ (aus High Enough To Carry You Over). Wahrscheinlich sind Lauren Mayberry und ihre Kollegen einfach zu schlau, um etwas so Hässliches wie Sexismus in etwas so Schönes wie ihre Musik hineinzulassen.

Der Albumtrailer zu Every Open Eye.

Homepage von Chvrches.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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