Künstler | Claire | |
Album | Tides | |
Label | Island | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Wie ein (etwas in die Jahre gekommener) Katalog eines Musikinstrumente-Versandhauses sehen die hinteren Seiten im Booklet von Tides aus. „Machines used on this record“, heißt die Überschrift, und zu finden sind dann beispielsweise diverse Synthesizer aus dem Hause Roland, Korg und Moog. Die meisten davon sind mehr als 30 Jahre alt.
Der analoge Ansatz ist enorm wichtig für das zweite Album von Claire, denn er repräsentiert nicht nur eine klangliche Weiterentwicklung des Quintetts aus München, sondern auch eine andere Herangehensweise an die eigenen Songs, sagt Nepomuk Heller, als einer von zwei Keyboardern bei Claire hauptsächlich mit dem neuen/alten Equipment beschäftigt: „Wir arbeiten heute auf eine komplett andere Art, als auf unserem Debüt. Wir haben mit diesen alten Maschinen sehr viel rumgetüftelt. Alles braucht viel länger als auf digitalem Weg. Doch auf diese Art muss man sich gezwungenermaßen sehr viel Zeit für ein Lied nehmen und sich viel intensiver mit den Stücken beschäftigen, als wenn die Songs am Rechner entstehen.“ Als Ergebnis sind die neuen Lieder aus seiner Sicht „lebendiger und echter. An einigen Stellen rauscht und brummt es; wir haben diesmal viele Fehler und Nebengeräusche einfach drin gelassen, weil sie den besonderen Charakter des Albums ausmachen.“
Wer nun befürchtet, Claire seien Grunge geworden, kann beruhigt sein: Auch die zweite Platte nach dem schicken 2013er Debüt The Great Escape bietet kurzweiligen, manchmal sogar glamourösen Elektropop. Der Auftakt Friendly Fire ist ein extrem eingängiger Start und wartet zudem mit einem sehr coolen Zitat aus Rent von den Pet Shop Boys auf. Treading Water zeigt eine unaufdringliche Klasse, die man in Deutschland nicht oft in diesem Genre findet, mit No Way To Save It zeigen Claire, dass auch eine Ballade spannend sein kann, wenn man etwas Mut zum Sperrigen im Hintergrund aufbringt.
Der Versuch, nach der einigermaßen improvisierten Bandgründung nun die Identität von Claire zu schärfen (auch die 2016er EP Raseiniai kann wohl in dieser Richtung verstanden werden), ist den Münchnern hier deutlich anzumerken. „Wir haben uns viel mehr getraut, als auf unserem ersten Album“, sagt Matthias Hauck, der zweite Keyboarder. „Alles ist heute viel mutiger geartet. Extremer. Laute Songs sind richtig laut und tanzbar, leise Songs dagegen richtig leise und atmosphärisch. Es gibt keinen Mittelweg mehr.“
Zu dieser Prämisse gehört auch, dass die Texte etwas persönlicher geworden sind, wie Frontfrau Josie-Claire Bürkle sagt: „Wir haben im Vorfeld sehr lange über die Stücke gesprochen und die Dinge auf den Tisch gebracht, die uns bewegt haben. (…) Es geht in den Songs sehr oft um Zwischenmenschliches, wie die unterschiedlichen Stadien der Liebe und die Stationen, an denen man sich innerhalb einer Beziehung befindet. Um den Zyklus des Werdens und Vergehens der Liebe.“
Ein Song wie Drowning macht deutlich, was sie damit meint: Das Stück ist sehr reduziert, der Gesang beinahe verschlafen – das Ergebnis klingt fast, als würden Boy versuchen, Faithless zu sein. Auch Back To Shore passt in diese Reihe, wird allerdings etwas langweilig und überambitioniert. Der Album-Abschluss Come Close hat eine ähnliche Atmosphäre, aber glücklicherweise eine klugere Dramaturgie. „Es war eine Stimmungsentscheidung, ihn ganz ans Ende zu setzen. Der Song rundet die Platte sehr schön ab. Ein extrem emotionales Lied, das am Ende ausbricht und noch eine ganz andere Facette von uns zeigt. Es ist zwar kein klassisches Happy-End, trotzdem schwingt ein wenig Hoffnung und das Verlangen nach Harmonie mit. Bis sich das Meer der Gefühle so langsam wieder zu einer neuen Sturmflut hochschaukelt…“, meint Josie-Claire Bürkle.
Ein wichtiger Wegweiser für Tides waren für Claire nicht nur die Erfahrungen auf Tour im Vorprogramm von Woodkid und Bastille. Auch Produzent Dave McCracken (Depeche Mode, Scissor Sisters, Florence & The Machine) hat das neue Album geprägt. „Obwohl er erst während der laufenden Arbeiten zum neuen Album dazu kam, hat Dave enorm viel beigetragen“, sagt Gitarrist Florian Kiermaier. „Er hat jeden von uns genau beobachtet und geschaut, wer wie tickt und wer was am besten beherrscht. Die Arbeit mit ihm war einerseits eine große Herausforderung, trug aber auf der anderen Seite wahnsinnig zu unserer Weiterentwicklung bei.“
Bei sechs Songs ist McCracken auch als Co-Autor aktiv geworden. Dass diese Tracks mitunter zu den schwächeren Momenten der Platte gehören, dürfen Claire als Kompliment für die eigenen Songwriting-Qualitäten begreifen: Two Steps Back ist etwas lahm, Burn ein wenig zu monoton, End Up Here konzentriert sich zu stark darauf, unbedingt modern zu sein. Für drei Highlights von Tides sorgen die McCracken-Beiträge aber auch noch: Masquerade hat einen enorm guten Groove (und mehr braucht der Song gar nicht), Say It hätte nicht nur in den Neunzigern jeden Dancefloor-Fan glücklich gemacht, und The Crash erweist sich als sehr guter Song, der durch den Kinderchor noch eine Extraportion Finesse bekommt.
Das Auf und Ab, auf das der Albumtitel anspielt, findet sich also auch auf dem zweiten Album des Quintetts. Für die Profilbildung ist Tides trotzdem ein Schritt nach vorne: Von Ebbe kann bei Claire erst einmal keine Rede sein.
Die praktische Botschaft im Video zu Friendly Fire: heulen, tanzen, weitermachen.
Im Frühjahr gibt es reichlich Konzerte von Claire.
27.04. Frankfurt, Zoom
28.04. Köln, Luxor
29.04. Dresden, Beatpol
01.05. Leipzig, Naumanns
02.05. Hamburg, Mojo Club
03.05. Berlin, Bi Nuu
05.05. München,Ampere
06.05. Stuttgart, Wizemann Club
08.05. Nürnberg, Hirsch
09.05. Wien, Flex Cafe
10.05. Salzburg, Rockhouse Bar
11.05. Mannheim, Alte Feuerwache
12.05. Regensburg, Mischwerk