Künstler | Clueso | |
Album | Stadtrandlichter Live | |
Label | Vertigo | |
Erscheinungsjahr | 2015 | |
Bewertung |
Liebe Großeltern des Landes,
bitte kauft euren Enkeln nicht diese CD zu Weihnachten. Ich weiß: Ihr glaubt, dass die jungen Leute heutzutage auf „diese Hip-Hop-Musik“ stehen. Ihr glaubt auch, dass sie noch einen CD-Player haben. Ihr glaubt, dass man mit einem Album nicht ganz falsch liegen kann, das die Live-Fortsetzung von Stadtrandlichter ist, das immerhin Platz 1 in den deutschen Charts und Gold-Status erreicht hat. Und ihr glaubt, dass Clueso schließlich dieser Junge ist, der eine halbwegs harmlose Variante von „dieser Hip-Hop-Musik“ macht. Zum Mitsingen, auf Deutsch, ohne Tattoos und viel zu tief sitzenden Hosen. Außerdem ein netter Kerl, der sich um seine Freunde und den Nachwuchs in der Region kümmert. Eigentlich hättet ihr gerne so einen Schwiegersohn.
Aber glaubt mir: Der Konsum von Stadtrandlichter Live kann schlimme Folgen haben. Im besten Fall schlafen eure Enkel einfach am helllichten Tag ein, so langweilig ist diese Platte. Im zweitbesten Fall entschließen sie sich, schnellstmöglich eine Musikschule zu besuchen, so viele nervige Mucker-Soli und unnötige Instrumentalpassagen gibt es auf dem Album. Und im schlimmsten Fall fangen sie an zu kiffen und verlieren alle Motivation für ihr weiteres Leben. So ein Effekt scheint hier bei den Beteiligten eingetreten zu sein. Die Leidenschaft von Blut, Schweiß und Tränen? Nichts davon lässt sich auf Stadtrandlichter Live erkennen – und Feuer gibt es auf diesem Doppelalbum allenfalls, um einen neuen Joint anzuzünden.
Schon Pack meine Sachen als erster Track ist kein mitreißender Auftakt, sondern eher ein Moment zum Runterkommen, als habe Clueso bereits zwei Stunden Konzert in den Knochen. „Ihr werdet ausflippen“, lautet das Versprechen im Text, aber es gibt nicht den geringsten Anlass dazu – nicht in diesem Song und nicht in den folgenden. Man fragt sich tatsächlich wiederholt, warum 15.000 Fans zu den beiden Konzerten kurz nach Weihnachten 2014 in die Messehalle von Cluesos Heimatstadt Erfurt gekommen sind, bei denen dieses Livealbum aufgenommen wurde. Man fragt sich auch, ob die rund 600 Konzerte genauso ereignislos waren, die Clueso seit Beginn seiner Karriere gespielt hat. Und ob es auf den bisher sechs Studioalben des Künstlers nicht ein paar bessere Songs hätte geben müssen als die hier aufgeführten.
„Erfurt, gebt uns mal ein bisschen Energie!“, lautet bezeichnenderweise schon im zweiten Lied Zu schnell vorbei die Bitte ans Publikum. Stimmlich wirkt Clueso angeschlagen, viele Ideen gehen – wie die blöden Synthies in Freidrehen – in die Hose. Still ist ein ziemlich typischer Moment: Das Lied klingt in erster Linie selbstverliebt, als würden Clueso und seine sechsköpfige Band vergessen, dass da auch noch ein Publikum ist, das womöglich sogar unterhalten werden möchte. Bei Nebenbei fragt man sich, wie ein 35-Jähriger schon so sehr im Gestern leben kann. Noch schlimmer wird das Medley: Es wirkt mit seinen Rap-Einlagen auf qualitativ überschaubarem Niveau wie ein sehr schlechter Jan-Delay-Abklatsch, erstickt beinahe an seiner Selbstbeweihräucherung und wirft zudem die Frage auf, wie viele falsch betonte Silben man wohl in einen einfachen Satz wie „Love the people“ packen kann.
Immer mal wieder schimmert auf Stadtrandlichter Live so etwas wie ein Lichtblick durch, aber kein einziges Lied aus diesem Konzertmitschnitt ist wirklich überzeugend. Gewinner fängt schön an, der Refrain wirkt dann aber völlig unmotiviert. Das Intro #1 hat wenigstens etwas Drive (eine sehr seltene Qualität auf dieser Platte). Out Of Space könnte in dieser Electro-Version interessant sein, würde Clueso den Text nicht so wegnuscheln. Auch die beiden Gastauftritte reißen es nicht raus: Verdamp lang her mit Wolfgang Niedecken hat keinerlei Punch, sodass das Lied letztlich einfach nur verdammt lang ist. Und in Cello ist vor allem lustig, wie viel Spaß Udo Lindenberg daran hat, er selbst zu sein.
Stadtrandlichter Live wäre ein vollkommen frustrierendes Werk, gäbe es da auf der zweiten CD nicht die Bonustracks, aufgenommen im Klubhaus der Energiearbeiter Erfurt. Sie zeigen endlich: Clueso kann eine Menge, aber er hat offensichtlich ein falsches Verständnis davon, was seine Stärken sind. Seine Musik lebt eher von Gemütlichkeit als Show, eher von Intimität als von Spektakel, eher von Gefühl als von Handwerk. Die akustische Session bringt diese Stärken zur Geltung. Unter Strom ist das erste überzeugende Lied auf diesem Doppelalbum, auch deshalb, weil es vom Dasein im Halbschlaf – anscheinend der bevorzugten Lebensform von Clueso – erzählt. Galerie ist sehr stimmig und hat eine einnehmende Atmosphäre, Lass den Kopf nicht hängen wird sehr hübsch, Wach auf beweist eine Spontaneität, die sehr wohltuend ist. Geradeaus zeigt ebenfalls, wie überzeugend ein Lied von Clueso sein kann, wenn er auf das Brimborium verzichtet, das die Show in der Messehalle noch aufgeführt hatte.
Clueso will, insofern kann man Stadtrandlichter Live als Ende eines Karriereabschnitts verstehen, künftig mehr solo agieren und nicht mehr so sehr mit Band (zu der hier unter anderem Philipp Milner von Hundreds an den Tasteninstrumenten gehört). Vergleicht man die durchweg hörenswerten akustischen Bonustracks mit den lahmen Live-Stücken zuvor, dürfte das genau der richtige Weg für ihn sein.