Künstler | Die Zikaden | |
Album | Die neue Landschaft | |
Label | Peacific | |
Erscheinungsjahr | 2015 | |
Bewertung |
Mit Zikaden ist das so eine Sache. Wenn sie (ja, liebe Zoologen, ich weiß, dass von den 45.000 Arten nur die Singzikaden auch Klänge im für Menschen wahrnehmbaren Frequenzbereich produzieren) dieses Zirpen verbreiten, an einem lauen Sommerabend in der Provence, dann kann das genau der Sound sein, der einen bis dahin bloß netten Hintergrund zum perfekten Idyll macht. Versucht man hingegen, in einem Hotelzimmer irgendwo in der Nähe von Valencia einen Mittagsschlaf zu machen, bei geöffnetem Fenster, kann man von eben diesem Geräusch aber auch tierisch genervt sein.
Ein ganz kleines bisschen ist das auch bei Die Zikaden so. Die Band, deren Mitglieder in Leipzig, Braunschweig und Osaka beheimatetet sind, hat mit Die neue Landschaft gerade ihr zweites Album vorgelegt (das Debüt Blinde Hühner hatten sie noch unter dem Namen The Cicada Piece herausgebracht). Die Platte kann mitunter anstrengend sein. Was man hier hört, ist eine sehr akademische Ausprägung von Pop, eine Musik, die immer schön ist, aber es dem Hörer doch nie leicht macht.
Alpha Zucker Alpha ist ein gutes Beispiel für diese Gratwanderung zwischen flirrender Nervosität und verkaterter Trägheit. Auch Von dir und mir und den Werwölfen kann als typisch gelten: Sänger Claus Telge (der von mir übrigens Sympathie-Bonuspunkte bekommt, weil er erstens ein bisschen wie Jens Friebe klingt und ich ihn zweitens einmal bei einem Konzert der Liga der gewöhnlichen Gentlemen getroffen habe) beschwört darin schöne Bilder herauf, mit Zeilen, die nicht sofort einleuchten, die aber sofort etwas mit dir machen – ein Effekt, den man etwa auch von Erdmöbel kennt.
Was Die neue Landschaft allerdings am meisten prägt, ist die Reibung zwischen Musik und Text, Instrumenten und Stimme. Viele Lieder beginnen fast unvermittelt mit Gesang, bevor die Instrumente ein Fundament dafür erbaut haben, und auch deshalb wirkt es oft so, als entstünden die beiden Bestandteile bei den Zikaden unabhängig voneinander. Es gibt etliche Texte, die Claus Telge auch zu ganz anderer Musik singen könnte; umgekehrt könnte die Musik vieler Lieder auch mit ganz anderen Wörtern versehen sein.
Manchmal wirkt das wie ein Kampf, als würde jedes Instrument einzeln gegen den Verdacht ankämpfen, die Musik sei hier nur ein Vehikel für (die unbestreitbar reizvolle) Poesie. Ein paar Mal wirft dieses Album die Frage auf, ob die Formel „Gedicht + Musik = Song“ wirklich immer aufgeht.
Viel eher als für Zweifel sorgt dieser Konflikt aber für Spannung, Magie und Charakter. Schon der Auftakt Ach komm, das ist doch so 19. Jahrhundert beweist das: Trotz des stoischen Schlagzeugs wirkt der Sound zunächst wirr und unverwoben, schnell entfaltet dieses Rezept aber seine Wirkung und offenbart ungeahnte Verbindungslinien zwischen Blumfeld und Velvet Underground. Die neue Landschaft hat eine schöne Atmosphäre und eine noch bessere Dramaturgie, Durch die Tanzenden hindurch versieht das Album mit dem nötigen Punch.
In Sanfter Godzilla beeindruckt das Cello, das wunderbare Für Delmore braucht nur Stimme und Gitarre, auf dem Weg Von Düsseldorf nach Ibiza scheinen die Zikaden auch Andreas Dorau begegnet zu sein, Blühen/Welken wird ein sehr schöner, grandios arrangierter Schlusspunkt. Was diese Platte ausmacht, lässt sich vielleicht am besten in ETs Finger erkennen: Die subtilen Variationen sind entscheidend. Eine erwartete Wiederholung, die an entscheidender Stelle ausbleibt, ein Wechsel im Metrum – all das sorgt dafür, dass Wohlklang und Harmonie stets mit der nötigen Dosis an Subversion versehen werden.
Ihren neuen Namen haben Die Zikaden übrigens einem Hörspiel von Ingeborg Bachmann entlehnt. Darin versuchen mehrere Menschen, vor der Gesellschaft zu fliehen und landen auf einer Insel im Mittelmeer. Doch sie können weder ihrer eigenen Vergangenheit entkommen – noch dem Gesang der Zikaden.