Dinosaur Jr. – „Give A Glimpse Of What Yer Not“

Künstler Dinosaur Jr.

Dinosaur Jr Give A Glimpse Of What Yer Not Kritik Rezension
„Give A Glimpse Of What Yer Not“ ist das siebte Album der Originalbesetzung von Dinosaur Jr.
Album Give A Glimpse Of What Yer Not
Label Jagjaguwar
Erscheinungsjahr 2016
Bewertung

„With all the insanity that is stalking the earth in 2016, it’s nice to have something to rely on. Who’d’ve dare to think it’d be Dinosaur Jr?“, wundert sich Musikjournalist Byron Coley im Begleittext zu dieser Platte. In der Tat muss es sich für viele Anhänger der Alternative-Helden noch immer wie ein Traum angefühlt haben, als im vergangenen Jahr die Originalbesetzung aus J Mascis, Lou Barlow und Murph auf der Bühne stand und mit etlichen prominenten Gästen das 30. Jubiläum ihres Debütalbums feierten.

Schließlich kennt die Geschichte dieser Band den Rauswurf von Gründungsmitgliedern, den Ausverkaufs-Vorwurf nach dem Deal mit einem Major-Label und gleich mehrere Platten, auf denen zwar „Dinosaur Jr“ stand, die aber de facto Soloalben von Gitarrist und Sänger J Mascis waren. Seit 2005 ist das ursprüngliche Lineup wieder vereint – und wie viel Lust sie noch/wieder auf das gemeinsame Musizieren haben, unterstreicht das morgen erscheinende Give A Glimpse Of What Yer Not. Es ist das elfte Album in der Geschichte von Dinosaur Jr und das siebte in dieser Besetzung, die von etlichen Hardcore-Fans als die einzig legitime betrachtet wird.

Bei einem Song wie I Told Everyone möchte man als Fan dieser Band in die Luft springen vor lauter Freude darüber, wie viel Punch und Originalität das hat, ohne dabei an Wiedererkennungswert einzubüßen. Ähnlich umwerfend ist der Auftakt Goin‘ Down: Das Lied hat viel Druck auch dank einer Gitarre, die fast keine Höhen zu haben scheint, und als Mascis dann „Are you with me?“ fragt, dürfte jeder Mensch mit intaktem Gehörsinn das laut bejahen, und zwar aus vollem Herzen und mit wild geschüttelter Mähne. Good To Know hat mächtig Spaß daran, richtig heavy zu sein, mit Mirror zeigen Dinosaur Jr, dass sie richtiggehend bedrohlich sein können.

Das Beste an dieser Platte ist, dass sie genau das tut, was der Titel Give A Glimpse Of What Yer Not andeutet: Dinosaur Jr bleiben im Kern bei sich, tasten sich aber auch behutsam in Bereiche vor, in denen man sie bisher nicht erwartet hätte. Knocked Around klingt somnambul und wehmütig, es könnte ein Track sein, den die Rolling Stones im Exil(e) aufgenommen haben, bevor sich nach zweieinhalb Minuten eine Aggressivität einstellt, in deren Kraft vielleicht auch Hoffnung steckt – nicht auf eine Erfüllung der Sehnsucht, aber auf ein Ende des Sehnens. Be A Part ist deutlich geruhsamer als das Gros des Albums, die Stimme von Mascis darf glänzen und sich von einer hübschen Orgel begleiten lassen, das Ergebnis ist nicht ganz weit weg von Countryrock. Das von Lou Barlow geschriebene Left/Right, das am Ende des Albums steht, wäre mit etwas Fantasie auch von den Kings Of Leon vorstellbar, denn der Song hat viel Lässigkeit und eine unverkennbare Blues-Prägung sowie eine vergleichsweise komplexe Dynamik (tatsächlich erklingt sogar ein Synthesizer).

Solche neuen Facetten bereichern das erprobte Konzept: Es gibt viel Feedback und ungefähr dann, wenn die erste Schlaufe von Strophe und Refrain abgeschlossen ist, kommt verlässlich ein Gitarrensolo. Vor allem aber leben Dinosaur Jr nach wie vor von den erstaunlichen Kontrasten, die sie bieten. Die Single Tiny ist ein Beispiel dafür: Die unfassbare Innigkeit und Putzigkeit der Stimme von J Mascis wird stets bedroht von diesem Berserker-Sound, den Lou Barlow und Murph veranstalten, dazu kommen ein Tempo, das sich immer weiter zu steigern scheint, und ein Riff, das so gut es, dass es vom Bass gleich mitgespielt wird. In I Walk For Miles besingt Mascis seine Orientierungslosigkeit, aber die Musik dazu ist die pure Entschlossenheit und Urgewalt. Lost All Day hat einen beinahe luftigen Beat, allerdings sorgt der Text dafür, dass der Song nicht wirklich heiter wird: „You and me“, diese drei harmlosen Wörter klingen hier nicht nach glückseliger, unverbrüchlicher Zweisamkeit, sondern wie die Diagnose einer schlimmen chronischen Krankheit.

In Love Is…, dem zweiten Beitrag von Lou Barlow auf dieser Platte, klingen Dinosaur Jr gar wie eine komplett andere Band, nicht nur wegen Barlows Gesangs, sondern auch wegen der akustischen Gitarre und des gebremsten Tempos. So ein Lied muss Gram Parsons wohl im Sinn gehabt haben, als er den Terminus von der „Cosmic American Music“ erfand. Insgesamt gelingt es der Band mit Give A Glimpse Of What Yer Not, ihre Grenzen zu erweitern und sich doch treu zu bleiben – mehr kann man kaum verlangen.

Dinosaur Jr spielen Tiny, live bei Jools Holland.

Website von Dinosaur Jr.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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