Künstler | Einstürzende Neubauten | |
Album | Lament | |
Label | Mute | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
Der Erste Weltkrieg, vertont als Rockmusik? Man kann das pietätlos finden. Oder aufregend. Aber egal, auf welcher Seite dieser Front man steht: Man kann sich wohl niemanden vorstellen, der eine solch makabre Idee auf gelungene Weise umsetzen könnte – außer die Einstürzenden Neubauten.
Der Sound von Blixa Bargeld, NU Unruh, Alexander Hacke, Jochen Arbeit und Rudolf Moser (und der vorherigen Besetzungen) war schon immer mehr als Musik. Einstürzende Neubauten – das ist Innovation, Stilbruch, Leinwand, Tanztheater. Musik als Installation. Und wahrscheinlich genau aus diesem Grund wurden die Berliner zu den Adressaten der Anfrage der flämischen Stadt Diksmuide, die aus Anlass des 100. Weltkriegs-Jubiläums ein Musikwerk in Auftrag geben wollte, das an den Großen Krieg erinnert.
„Es war nie mein innigster Wunsch, etwas über den Ersten Weltkrieg zu schreiben”, erinnert sich Blixa Bargeld an seine unmittelbare Reaktion. Als er sich näher mit dem Thema beschäftigte, stieg das Interesse aber schnell: „Während der Recherchen wurde mir bewusst, dass der Zweite Weltkrieg nichts weiter war als die Fortsetzung des Ersten. Als Kind der Nachkriegszeit und der daraus resultierenden Teilung Deutschlands bin ich diesbezüglich enorm geprägt.”
„Recherche“ ist ein wichtiges Stichwort für Lament, das Werk, das schließlich aus dieser Anfrage hervorging und am 8. November 2014 in Diksmuide uraufgeführt wurde. Die Neubauten engagierten zwei Historiker, um auf möglichst ungewöhnliche Quellen zu stoßen, sie nutzten Material aus dem Lautarchiv der Humboldt-Universität in Berlin und ließen sich auch im Militärhistorischen Museum in Dresden beraten. Im Booklet sind unter anderem Stammbäume der Herrschaftshäuser und Grafiken zu den Rüstungsausgaben der Jahre 1905-1913 abgebildet.
Das Ergebnis ist so radikal und ungewöhnlich, wie man es von den Einstürzenden Neubauten kennt – und wie es dem Thema angemessen ist. Zu den Instrumenten zählt beispielsweise eine Harfe aus Stacheldraht, Granathülsen werden aus Percussion-Instrumente genutzt, neben dem Schlagwerk und der Stimme von Blixa Bargeld prägt ein Streicher-Ensemble das Klangbild am deutlichsten.
Der Auftakt Kriegsmaschinerie klingt, als würden im Orchestergraben die Instrumente gestimmt, und jedes davon sei eine Waffengattung einer der Kriegsparteien – das Stück endet mit einem Schrei. Hymnen kombiniert verschiedene Nationalhymnen der Kombattanten, vorgetragen ohne einen Hauch von Ironie, bis zur spöttischen letzten Strophe, in der Heil Dir im Siegerkranz verballhornt wird.
The Willy-Nicky Telegrams vertont mit einer Auto-Tune-Stimme die telegrafische Korrespondenz des deutschen Kaisers und des russischen Zaren, das klingt in bester Christopher-Clark-Manier tatsächlich, als würden sich hier Schlafwandler austauschen. In De Loopgraaf bietet den Text eines holländischen Frontsoldaten, der 1916 entstanden ist und hier von zunächst wirren, dann martialischen Trommeln untermalt wird. Auch Achterland basiert auf dem Text eines Dichters, der selbst in den Schützengräben von Flandern gekämpft hat.
Der Erste Weltkrieg (Percussion Version) zählt fast eine Viertelstunde lang die einzelnen Kriegsparteien und die Orte wichtiger Schlachten auf, später gibt es auf Lament auch noch das bitterböse Der Beginn des Weltkriegs 1914 (dargestellt unter Zuhilfenahme eines Tierstimmenimitators), das Elemente eines zeitgenössischen Kabarettisten integriert. On Patrol In No Man’s Land und der Album-Schlusspunkt All Of No Man’s Land Is Ours sind Lieder, die im Ersten Weltkrieg von den Harlem Hell Fighters verfasst und gesungen wurden, der ersten Kampfeinheit mit Afroamerikanern, die damals zum Einsatz kam.
Die zweite Hälfte von Lament beginnt mit drei Tracks, in denen Originalaufnahmen von Kriegsgefangenen zu hören sind, die damals in Deutschland interniert waren. In Sag mir wo die Blumen sind macht Blixa Bargeld sehr gekonnt die Marlene. Am eindrücklichsten gerät How Did I Die?, ein Lied, in dem er auf Deutsch, Englisch und Französisch singt, wie eine Stimme aus dem Jenseits. „How did I die?“, fragt er darin wiederholt, schließlich aber auch: „Didn’t I die at all?“ Ebenso subtil wie unmissverständlich wird damit die Botschaft von Lament auf den Punkt gebracht: Ein Unterscheiden zwischen Leben und Tod war kaum noch möglich, so total war die Apokalypse auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs.
Auch das Outfit ist fast wie bei Marlene Dietrich: Sag mir wo die Blumen sind live in Diksmuide.
https://www.youtube.com/watch?v=z_1dRoKOkAs