Künstler | Erasure | |
Album | Snow Globe | |
Label | Mute | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
„Es ist fast so, als würde man seine Ex-Frau wiedersehen,“ sagt Andy Bell über das erste Treffen mit seinem Bandkollegen Vince Clarke nach zweieinhalb Jahren. „Du weißt: Du liebst diese Person. Aber was wird passieren?“ Auch Vince Clarke hatte ein mulmiges Gefühl, als er Anfang des Jahres das nächste Kapitel in der Karriere von Erasure aufschlagen wollte. „Ich werde dann schon nervös. Es dauert immer ein oder zwei Tage bis man sich wieder wohl fühlt, aber Andy ist so unkompliziert, es ist einfach eine Freude mit ihm zu arbeiten.“
Was die beiden zusammengeführt hat, war eine durchaus gewagte Idee: Snow Globe. Oder aber: Erasure machen ein Weihnachtsalbum, mit 13 Liedern, darunter vier Traditionals und vier Coverversionen.
Der Ausgangspunkt dafür lag in zwei der ersten Songfragmente. Andy hatte das leicht düstere Winterlied Blood On The Snow fast fertig, Vince hatte sich ausnahmsweise an einem optimistischen Song versucht, der den Titel Bells Of Love bekam – wie gemacht nicht nur als Hommage an seinen Bandkollegen, sondern auch als Weihnachtstitel. Das Management hatte dann die Idee, dieses Fundament zu einem Weihnachtsalbum auszubauen. „Ich war davon am Anfang nicht sonderlich überzeugt. Es gibt so viele Weihnachtslieder, die man schon eine Million Mal gehört hat. Es ist sehr schwierig, sie noch einmal ganz neu klingen zu lassen, ihnen einen unverwechselbaren Charakter zu geben – aber genau das war unser Ziel“, hat mir Vince Clarke im Interview verraten. Und er ergänzt stolz: „Ich denke, dass wir das hinbekommen haben.“
Man muss ihm zustimmen: Es wirkt zunächst anmaßend, sich Klassikern wie White Christmas oder Silent Night zu nähern mit der überheblichen Ansicht, man könne diesen Liedern etwas Eigenes hinzufügen, womöglich gar etwas Neues entlocken. Doch Erasure haben unter anderem mit der famosen ABBA-Esque-EP vorgeführt, wie gut sie im Umgang mit fremdem Material sind. Und gerade die beiden genannten Weihnachts-Evergreens beweisen das auch hier: Ein bisschen Elektronik im Hintergrund sorgt bei Silent Night für viel Spannung, die Atmosphäre steigert sich schleichend, als könne das Lied in jedem Moment explodieren und sich mit einem satten Beat in einen Chicago-House-Track verwandeln (was es dann glücklicherweise aber nicht tut). Auch bei White Christmas passiert zwischen den Strophen genug Neues, um diese Version relevant und besonders zu machen.
The Christmas Song lassen Erasure klingen wie die Melodie aus einem 8-Bit-Computerspiel, auch ein Traditional wie In The Bleak Mid Winter machen sie sich mühelos zu eigen. „Einige von den Traditionals, die wir aufgenommen haben, kannte ich vorher gar nicht. Ich habe versucht, sie nicht als Weihnachtslieder zu betrachten, sondern einfach als neues Material, an dem wir gerade arbeiten“, erklärt Vince Clarke die Arbeitsweise.
Dass es nur fünf Stücke aus eigener Feder gibt, hat neben dem Weihnachtskontext noch einen Grund: Andys Lebenspartner starb im vergangenen Jahr, und die Arbeit an einem kompletten neuen Album wollte ihm Vince in so einer schweren Zeit nicht zumuten. Diese gegenseitige Rücksichtnahme ist ein wichtiges Element der Band-Dynamik. Wie Vince Clarke im Interview sagt, sieht er als größte Leistung von Erasure nicht etwa Hits wie Blue Savannah oder A Little Respect oder 25 Millionen verkaufte Platten an, sondern die Tatsache „dass ich immer noch mit Andy zusammen Musik mache. Lieder zu schreiben ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Man streitet sich, man macht Fehler, und man braucht jemanden, den man wirklich respektieren kann, um damit klarzukommen. Andy ist ein so offener und vertrauenswürdiger Mensch – es ist toll, dass wir immer noch zusammen Musik machen und uns immer noch lieben.“
Snow Globe ist ein Album geworden, das viele typische Erasure-Eigenschaften aufweist. Das hypnotische Gaudete (auf Latein gesungen) ist famos prätentiös, Sleep Quietly bekommt einen exaltierten, fast gespenstischen Musicalcharakter à la Sweeney Todd. Nicht zuletzt ist der Gesang exzellent: Beispielsweise in Silver Bells dominiert er alles, und es ist kaum zu fassen, wie wenig die Stimme von Andy Bell in den 28 Jahren seit dem Erasure-Debüt gealtert ist („Ich habe Andy niemals besser singen hören“, schwärmt auch Vince Clarke). Nur eines fehlt: Ein richtiger Feger, ein wenig Punch – was bei einem Weihnachtsalbum allerdings kaum verwunderlich ist.
Am nächsten dran kommt There’ll Be No Tomorrow, eine der Eigenkompositionen. Das Lied beginnt wie ein Klassiker aus den 1980er Jahren und geht auch genau so weiter. Es ist nicht der einzige Moment, der die Vorfreude auf mehr neue Songs steigert, die Erasure auch bald befriedigen wollen. „Im Frühjahr werden wir schon mit der Arbeit an neuen Liedern beginnen und wir haben vor, ab dann wieder regelmäßig mehr eigenes Material herauszubringen“, sagt Vince Clarke.
Auch die anderen neuen Stücke überzeugen: Loving Man hat eine toll verspielte Melodie, Make It Wonderful ist ein fast prototypischer Erasure-Popsong und Bells Of Love erlaubt sich zu einem euphorisierenden Refrain sogar ein bisschen Blasphemie: „I don’t believe in your religion / I only know what I can see“, singt Andy Bell da. Das sind ungewohnte Zeilen auf einem Adventsalbum, und sie lassen an Frankie Goes To Hollywood denken, die mit ihrem Weihnachtshit dieselbe Botschaft formuliert haben: Der wahre Erlöser heißt Pop.
Erasure bringen Latein in die Charts – mit Gaudete:
httpv://www.youtube.com/watch?v=NNFsVYim85k