Künstler | Erasure | |
Album | The Violet Flame | |
Label | Mute | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
Es gibt eine Stelle in Leo Tolstois Krieg und Frieden, in der eine ganz besonders innige Beziehung beschrieben wird. Zwischen Maria und Natascha, zwei der wichtigsten Figuren des Romans, entwickelt sich „eine leidenschaftliche und zärtliche Freundschaft, die nur unter Frauen vorkommt. Sie küssten sich unaufhörlich, sagten einander zärtliche Worte und verbrachten den größten Teil ihrer Zeit zusammen. Ging die eine aus, so war die andere unruhig und beeilte sich, sich ihr anzuschließen. Sie fühlten miteinander eine größere Übereinstimmung als jede einzeln mit sich. Das Gefühl, das sich zwischen ihnen entwickelte, war ein stärkeres als das der Freundschaft: es war das ausschließliche Gefühl, nur in Verbindung miteinander leben zu können.“
Man kann sich diese Art von Zweisamkeit auch gut bei Erasure vorstellen (nicht nur, weil Natascha bei Tolstoi mit einer bezaubernden Stimme und Maria mit einem eher schweren Gemüt ausgestattet ist). Zwar hat Andy Bell auch Soloplatten gemacht und Vince Clarke bekanntlich vor seiner Zeit in dieser Band schon bei Yazoo und Depeche Mode gewirkt. Doch mittlerweile machen die beiden seit 30 Jahren gemeinsam Musik, mit The Violet Flame legen sie das 16. Album ihrer Karriere vor – und wirken unzertrennlicher denn je.
Das kraftvolle Sacred – das beste Lied des Albums – hat eine dieser Melodien, die in keinem Moment das macht, was man erwartet, und trotzdem hochgradig eingängig wird. Paradise beweist, dass Erasure nach wie vor viel zu energisch für die Rentner-Disco sind, weitaus näher an Hercules & Love Affair als an, meinetwegen, Helene Fischer. Elevation ist eines dieser Lieder, die unnachahmlich Erasure sind.
Dabei war das Funktionieren der Symbiose beim Entstehen von The Violet Flame keineswegs selbstverständlich. „Als Vince und ich uns wieder zusammentaten, waren wir recht nervös“, erzählt Andy Bell über die ersten Gehversuche nach dem Comeback mit dem Weihnachtsalbum Snow Globe. „Snow Globe war eine Art Test, ob das mit dem Songwriting nach wie vor funktionieren würde. Da wir mit dem Ergebnis mehr als zufrieden waren, wurden wir auch gleich für The Violet Flame inspiriert.“
Vor einem knappen Jahr hatte mir auch Vince Clarke im Interview geschildert, wie schwierig es wegen der Tragödien in Andys Privatleben gewesen wäre, „ein ganzes Album zu schreiben. Deshalb haben wir beschlossen, nur ein paar eigene Songs zu machen und sie mit Coverversionen und Traditionals zu mischen.“ Er kündigte aber schon damals an: „Im Frühjahr werden wir schon mit der Arbeit an neuen Liedern beginnen und wir haben vor, ab dann wieder regelmäßig mehr eigenes Material herauszubringen.“ Er hat Wort gehalten, wie The Violet Flame beweist.
Alles auf der Platte, produziert von Richard X, ist mindestens achtbar, aber längst nicht alles gelingt vollends. Lieder wie Promises oder Under The Wave sind nett, aber überflüssig, der pseudo-moderne Opener Dead Of Night überzeugt auch nicht. Dazu kommen Momente wie Be The One oder Reason, die ohne die außergewöhnliche Stimme von Andy Bell bloß plumpe Liebeslieder wären, durch seinen Gesang aber etwas Besonderes werden.
Dass nach wie vor so viel emotionale Kraft in dieser Stimme steckt, liegt vielleicht auch in den Lebensumständen von Andy Bell. „Es geht um nichts anderes als Hoffnung, Vergebung, eine neue Chance zu erhalten – und um die Welt, die einem zu Füßen liegt“, sagt der 50-Jährige, der nach dem Tod seines Partners Paul Hickey wieder in einer neuen Beziehung ist, über die Themen des Albums. Smoke And Mirrors ist einer der Songs, der zeigt, dass die Kiste mit Ideen, aus denen sich Erasure seit drei Jahrzehnten bedienen, noch längst nicht leer ist. Der Track ist ambitioniert, aber nicht verkrampft, will Neues erkunden und Unerhörtes probieren.
Auch der Album-Schlusspunkt Stayed A Little Late Tonight, fällt mit seinem cleveren Spiel mit Abkürzungen in diese Kategorie und wird ein sehr gelungener Song über das Dahinsiechen, Verwelken und erodieren einer Beziehung. Nimmt man The Violet Flame als Maßstab, deutet nichts darauf hin, dass Erasure demnächst dieses Schicksal droht.
Erasure spielen Reason live in Boston.
Demnächst gibt es Konzerte von Erasure in Deutschland:
4.12. Köln, Palladium
5.12. Dresden, Schlachthof
7.12. Hamburg, CCH1
9.12. Berlin, Columbiahalle