Künstler | I Am Jerry | |
Album | Habicht | |
Label | Warner | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung |
Drogen sind scheiße. Sie sind (meistens) verboten, ihr Konsum finanziert den Reichtum dubioser Menschen und das Florieren verachtenswerter Strukturen. Sie machen doof. Und man kann, selbst Keith Richards bestätigt das freimütig, auf Drogen auch keine gute Musik machen.
Das Schlimmste: Drogen machen asozial. Damit ist nicht die Reaktion vom Rest der Gesellschaft gemeint, die erkennbare Säufer, Junkies oder Crystal-Meth-Konsumenten gerne meidet und ächtet. Asozial ist vielmehr das Verhalten der Konsumenten selbst: Drogen gaukeln vor, man könne Probleme auf anderem Wege entgehen als durch eine tatsächliche Konfrontation mit diesen Problemen. Wer Drogen nimmt, flieht in den Rausch statt an einer Lösung zu arbeiten, die dann im besten Falle sogar auch für andere Leute funktioniert. Er setzt das eigene Entkommen und Ausblenden an erste Stelle, statt sich mit anderen Menschen zu solidarisieren, die vielleicht dieselben Probleme haben und diese Probleme gemeinsam mit ihnen aus der Welt zu schaffen.
I Am Jerry singen auf ihrem Debütalbum Habicht sehr oft über Drogen. Ein Stück heißt LSD, im Rausschmeißer Yolöm spielt Kokain die Hauptrolle, Gib ihm bös huldigt dem Rausch und Marihuana, in Hübsche Polizeifrau wird vom Flirt mit einer Polizistin erzählt, zum Stein des Anstoßes (und Anlass des Flirts) wird dabei ebenfalls der Haschischkonsum.
Es ist sehr schade, dass dieses Thema die Platte so stark dominiert, aus zwei Gründen. Erstens: Drogen machen nicht nur dumm, sondern auch bequem – und es gibt ein paar Momente auf Habicht, in denen die Band aus Sprockhövel im südlichen Ruhrgebiet sich davon anstecken lässt. Die Songs haben vergleichsweise wenig Text, vor allem aber gibt es viele Copy-Paste-Wiederholungen. Das meint: Wenn ein Refrain noch einmal gespielt wird, was natürlich normal und legitim ist, dann stets in identischer Form wie zuvor, nicht mit leichten Variationen wie einem etwas veränderten Beat oder einem zusätzlichen Instrument. Deshalb wirken einige Songs ein wenig zu kalkuliert und schablonenhaft. Alles, was auf Habicht erklingt, ist gut gemacht und fast alles ist gelungen. Das Problem ist eher das, was man nicht zu hören bekommt: ein paar überraschende Details, ein bisschen mehr Finesse und Individualität.
Der zweite Grund, warum der Drogen-Vorwurf hier so schwer wiegt: Julian Kleinert (Gesang, Gitarre, Keyboards), Leo (Gitarre), Feras (Bass) und Timm (Schlagzeug), die seit mehr als zehn Jahren zusammen Musik machen und seit 2008 als I Am Jerry unterwegs sind, haben eindeutig das Zeug dazu, ein großes Publikum zu erreichen. Mehr noch: Sie haben auch den Willen dazu, und sie haben die Songs dazu. Man merkt Habicht an, wie sehr die Band weiß, dass dies ihre große (vielleicht einzige) Chance auf das Leben als Rockstar ist, wie lange diese vier Jungs diese Rolle schon ersehnen und wie gut sie in der Lage wären, sie auszufüllen.
„Unser Ziel ist es, ein Album zu machen, das wir selbst von einer deutschen Band vermissen. Eine Lücke zu füllen, mit einem Sound, der HipHop-Einflüsse hat und sehr beatige Elemente, aber auch viele klassische Elemente und Indie-Sachen wie den Arctic Monkeys oder den Killers oder so. Auf Deutsch“, hatte mir Gitarrist Leo schon vor ein paar Monaten im Interview gesagt. Sänger Julian unterstreicht diesen Anspruch und ergänzt, Habicht solle eine „Platte mit zwölf Songs sein, die alle anders klingen – und dennoch eine Erzählung bieten“.
Das Ergebnis ist deutsche (im weitesten Sinne) Rockmusik, die endlich einmal auf Schüchternheit, Bescheidenheit und überzogenes Indie-Ethos verzichtet und stattdessen herausschreit: Ja, wir wollen große Hallen füllen! Ja, wir wollen Schlagzeilen! Ja, wir wollen Groupies! Ja, wir können das, ohne unsere Songs deshalb dumm und anbiedernd werden zu lassen!
Das funktioniert auf der von Eki von Nice (Christina Stürmer, Juli, Polarkreis 18) produzierten Platte sehr gut: Ein viel besseres Sommerlied als die Single Habicht werden die 17-Jährigen des Landes im Jahr 2016 kaum finden. Wir wolln die Sonne sehn ist wie gemacht für Festivals. Das ebenso hymnische Für immer high (jaja, da ist es wieder) zementiert den Glauben, man könne das Jungsein für immer bewahren, wenn man es nur fest genug wünscht.
Die Arctic Monkeys kann man tatsächlich als Referenz ausmachen (was für ein Kompliment!), was auch an der Ähnlichkeit der Stimme von Julian Kleinert mit der von Alex Turner liegt, wie man etwa in der Vorab-Single Alles muss neu nachhören kann. Der mächtige Album-Opener Vollkontakt (das bedeutet in der Interpretation von I Am Jerry: Im Suff neue Leute kennen lernen, die Droge der Wahl heißt diesmal Tequila) lässt an Kraftklub denken.
Es gibt angesichts dieser Qualitäten wirklich schlimmere Zukunftsvisionen als eine Jugend das Landes, die plötzlich flächendeckend für I Am Jerry entflammt ist. Es wäre allerdings schön, wenn die Band ihren Appeal nutzen würde, um für das Problem des „Keine Chance habe ich“ (aus dem Titelsong) etwas anderes anzubieten als KiffenSaufenKoksen. Dass sie das können, deuten sie auf Habicht zumindest an: Nachtschicht setzt auf TripHop-Beat und Vocoder-Stimme und träumt auf (beinahe) nüchterne Weise vom Eskapismus („Wir fahren davon / ganz weit weg“). Auch Deine Stimme greift mit der Zeile „Bring uns hier weg“ diesen Gedanken auf, es ist das älteste Stück der Platte und hätte auch als Schwanengesang von Echt gepasst.
Nicht zuletzt zeigt Klippe, dass man die Vorliebe von I Am Jerry für Jugendlichkeit, Nachtleben, Sommerabenteuer und den guten alten Spaß auch anders rüberbringen kann: Der Song ist die Geschichte einer Verführung, Sänger Julian Kleinert präsentiert sich als Lebemann, Libertin und Lady’s Man, lüstern, schlüpfrig, scharf und explizit. Seit Selig hat das niemand mehr mit deutschen Texten so unpeinlich hinbekommen. Im besten Falle klappt die Sache mit den Groupies für I Am Jerry auch dank solcher Lieder wirklich – vielleicht gibt es dann beim zweiten Album weniger Drogenbotschaften, dafür mehr Sexlieder. Für die Zukunft des Landes wäre das ein Gewinn: Sex ist schließlich, anders als Drogen, legal, gesund und sozial.