Hingehört: Jethro Tull – „The String Quartets“

Künstler Jethro Tull

The String Quartets Jethro Tull Kritik Rezension
„The String Quartets“ zeigt Jethro Tull im klassischen Gewand.
Album The String Quartets
Label BMG
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Paul McCartney hat es getan (sein Liverpool-Oratorium), Deep Purple haben es getan (ihr Concerto For Rock Group And Orchestra), Elvis Costello hat es getan (seine Zusammenarbeit mit dem Brodsky Quartet). Pop-Künstler scheinen von der Idee, sich auch mit „ernsthafter“, also „klassischer“ Musik zu beweisen, magisch angezogen.

Ian Anderson, Frontmann von Jethro Tull, ist ein wenig überraschender Kandidat für das erneute Ausleben dieser Idee. Mit The String Quartets veröffentlicht er jetzt Stücke aus dem Oeuvre seiner Band, die eine Zeitspanne von 1969 bis 1987 abdecken, und von Keyboarder John O’Hara neu arrangiert wurden für ein klassisches Streicherquartett. Mit diesem Konzept stellen sich die beiden immerhin in eine Reihe mit Beethoven, Bartók oder Britten.

Dahinter steckt natürlich ein Minderwertigkeitskomplex: Pop ist in dieser Perspektive nur das alberne kleine Geschwisterlein von „richtiger“ Musik. Erst, wenn ein Musikstück auf einem Notenblatt steht und von jemandem gespielt wird, dessen Können per Diplom nachgewiesen ist, kann es wahrhaft gültig sein. Diese Idee kann man traurig, lächerlich oder fragwürdig finden. Es gibt auf dieser Platte, etwa bei Songs And Horses (ursprünglich als Songs From The Wood/Heavy Horses im Jahr 1977 veröffentlicht), das sich in erster Linie an seiner eigenen Virtuosität ergötzt, einige Momente, die in diese höchst bedenkliche Richtung weisen.

The String Quartets zeigt aber an den meisten anderen Stellen, dass dieses neue Gewand den Songs von Jethro Tull recht gut passt. Schließlich wähnte sich Anderson schon immer etwas näher an der Hochkultur als viele seiner Mitstreiter. Auch die Idee, gemeinsam mit einem Streicherquartett zusammen aufzunehmen, trägt er schon lange mit sich rum. “A couple of years ago, I came up with the idea of recording a dedicated string quartet album in a contemporary but ‚Classical’ setting with brief appearances from myself“, erzählt er. Die Umsetzung habe schließlich großen Spaß gemacht. „The Carducci Quartet provided a spirited and committed performance, without which all would have been futile. And, I only had to pay for lunch once as they brought sandwiches. Bless”, scherzt Ian Anderson.

Für die Songauswahl war ein besonders geschicktes Händchen gefragt, betont John O’Hara: “There seemed little point in transcribing the band parts and distributing them to the players. I felt a responsibility to delve deeper and offer a new imagining of each piece. An orchestrator’s job is to arrange and compose a new version of an existing work. However, I also felt a responsibility to the Jethro Tull listeners who cherish this material and may not welcome a radical rendition of a beloved song. My ambition was to create a thought-provoking album that remains true to Ian’s compositions.”

Das gelingt passabel – auch deshalb, weil es Ian Anderson versteht, sich innerhalb dieses neuen Kontexts etwas zurückzunehmen. Im Opener In The Past setzt er seine Flöte gegenüber den Streichern erstaunlich sparsam ein, in Velvet Green fehlt sie sogar vollständig. In Sossity Waiting gibt es erst gegen Ende kurz etwas Gesang, viele der weiteren Stücke (etliche haben einen im Vergleich zur ursprünglichen Veröffentlichung neuen Titel bekommen) sind rein instrumental. So dürfen neben O’Haras Arrangements und Andersons gelegentlichen Auftritten die anderen Musiker glänzen, namentlich das englisch-irische, mehrfach preisgekrönte Carducci Quartet, bestehend aus Matthew Denton (Geige), Michelle Fleming (Geige), Eoin Schmidt-Martin (Viola) und Emma Denton (Cello).

Die Ergebnisse zeigen immer wieder, dass hier keine völlig fremden Welten aufeinander treffen, sondern durchaus so etwas wie eine Verwandtschaft besteht. Only The Giving (ursprünglich: Wond’ring Aloud) wirkt fast wie ein ganz gewöhnlicher Folksong, wenn auch deutlich opulenter als in diesem Genre üblich. Loco (ebenfalls vom Aqualung-Album, dort als Locomotive Breath vertreten) behält auch im Klassik-Sound seinen Markenkern. Farm, The Fourway (einstmals: Farm On The Freeway) ist unverkennbar Jethro Tull, auch in diesem völlig veränderten Kontext.

Pass The Bottle (bekannt als: A Christmas Song) klingt auch wegen der prominenten Mandoline und der Folk-Atmosphäre wie das Spätwerk von Donovan nach einem ausgiebigen Bad in einem Barock-Zaubertrank. Am besten funktioniert die Idee, wenn man denn derlei Konzepte für notwendig oder zumindest tolerabel hält, zum Abschluss von The String Quartets: Unter dem neuen Namen Aquafugue erklingt da Aqualung und zeigt, dass schon immer ein bisschen (oder sogar ein gehöriger Anteil) Klassik in der Musik von Jethro Tull steckte.

Ha, gleich vier Notenhefte! Das Video zu Ring Out These Bells.

Website von Jethro Tull.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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