Hingehört: John Cale – „M:FANS“

Künstler John Cale

Cover des Albums M:Fans Kritik Rezension
John Cale überarbeitet seine eigene „Music For A New Society“.
Album M:FANS
Label Double Six
Erscheinungsjahr 2016
Bewertung

Neulich erst habe ich John Cale gedacht. Ich muss ein bisschen ausholen, um das zu erklären. Seit einiger Zeit ist nämlich der Kopfhörer meines iPhones etwas kaputt. Er hat einen Wackelkontakt, der manchmal dazu führt, dass das Telefon von selbst anfängt, Musik abzuspielen, die dann im Kopfhörer erklingt. Vor ein paar Tagen dachte ich, dass sei wieder passiert. Erst nach ein paar Sekunden habe ich gemerkt: Das ist gar keine Musik in meinem Kopfhörer. Das ist der Lärm von der Baustelle auf der anderen Straßenseite.

Ich habe mich gefragt: Wie kommt es eigentlich, dass es möglich geworden ist, solche Geräusche zunächst für Musik zu halten? Die Antwort führt zu verschiedenen Quellen, und John Cale ist eine der wichtigsten davon. Er hat, zunächst mit Velvet Underground und dann in einer mehr als 40-jährigen Solokarriere entscheidend dazu beigetragen, das Dissonante und Destruktive in die populäre Musik zu prügeln.

Dass Rock auch kalt, zynisch, diabolisch und nihilistisch sein kann, halten wir heute für selbstverständlich. Als John Cale Anfang der 1960er Jahre seine ersten Plattenaufnahmen machte, konnte davon aber keine Rede sein. „Die Welt ist schön, lass uns das genießen (vielleicht noch ergänzt um ein Yeah, Yeah, Yeah)“ – das war die gängige Popsong-Attitüde. Er hingegen sagte schon damals: „Die Welt ist schön, was ist das für ein Hohn (weil wir das nicht verdient haben)!“

Er wiederholte diesen Gedanken eigentlich auf jeder Platte, die in seinem Oeuvre noch folgte, auch auf Music For A New Society (1982), das er nun unter dem Titel M:FANS neu bearbeitet hat. “Making any form of art is always personal to my mind. During the making of M:FANS, I found myself loathing each and every character written about in those original recording sessions of Music For… ,” sagt John Cale, und er gesteht: “Unearthing those tapes reopened those wounds. It was time to decimate the despair from 1981 and breathe new energy, re-write the story. Then, the unthinkable happened. What had informed so much over lost and twisted relationships in 1981 had now come full circle. Losing Lou [too painful to understand] forced me to upend the entire recording process and begin again…a different perspective – a new sense of urgency to tell a story from a completely opposite point of view – what was once sorrow, was now a form of rage. A fertile ground for exorcism of things gone wrong and the realization they are unchangeable. From sadness came the strength of fire!!!”

Diese Wut hört man M:FANS wirklich an. Immer wieder kann man nicht anders als staunen darüber, wie ungewöhnlich und inspiriert diese Musik ist, egal ob es Tracks wie Sanctus (Sanities Mix) sind, die eher wie ein Hörspiel als wie ein Lied wirken oder der Schlusspunkt Back To The End, der einzige Song, in dem John Cale tatsächlich klingt, als wolle er gefallen, nicht verstören.

Vor allem nutzt er die Neubearbeitung (willentlich oder nicht), um zu zeigen, wie prägend er für die Musik der vergangenen 50 Jahre war. Library Of Force (feat. Man In The Book excerpt) wird eine Spoken-Word-Prophezeiung wie mit der Stimme von Gott oder wenigstens Moses, Abraham oder einem dieser Typen vorgetragen (oder von Deep Thought, dem Computer, der in Per Anhalter durch die Galaxis die Antwort auf alles benennt). Taking Your Life In Your Hands klingt, wie man sich 1958 vielleicht die Zukunft des Blues vorgestellt hat. Thoughtless Kind wird so finster, verzweifelt und doppelbödig wie Depeche Mode immer bloß gern gewesen wären.

Nicht zuletzt hat M:FANS, neben dem Mut, sich eine der eigenen Großtaten erneut vorzunehmen, was ja immer auch die Gefahr der Blamage birgt, etliche überraschende Momente zu bieten. If You Were Still Around könnte man fast als eine Arie begreifen, so dominant ist hier die Rolle von John Cales Stimme. Chinese Envoy wird nicht nur eingängig, sondern – whisper it – auch funky und zugleich eines von mehreren Liedern auf dieser Platte, die daran erinnern, wie sehr man David Bowie vermissen wird.

Auch Changes Made, das eine lupenreine New-Wave-Strophe verpasst bekommt, wird im Refrain erstaunlich mitreißend. “There gonna be changes” wird hier zwar nicht unbedingt ein Versprechen, aber bei weitem auch keine apokalyptische Warnung. Mit Broken Bird gönnt sich das Album eine große Altmännerballade, für die Dylan, Cohen, Joel oder eben Cale nun einmal in jahrzehntelanger Arbeit die Lizenz erworben haben. Und Close Watch, zuletzt von der wunderbaren Courtney Barnett gecovert, bringt die Qualitäten von M:FANS noch einmal auf den Punkt: Es klingt unfassbar modern, nicht nur für einen 72-Jährigen.

Chinese Envoy als TV-Performance aus dem Jahr 1983.

Website von John Cale.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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