Hingehört: Joy Denalane – „Gleisdreieck“

Künstler Joy Denalane

Gleisdreieck Joy Denalane Kritik Rezension
Am „Gleisdreieck“ in Berlin ist Joy Denalane aufgewachsen.
Album Gleisdreieck
Label Nesola
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Volljährig wird Mit Dir in diesem Jahr, das Lied, mit dem Joy Denalane bekannt wurde. Man muss sich das in Erinnerung rufen anlässlich ihres heute erscheinenden neuen Albums, der ersten Platte der Berlinerin seit sechs Jahren. Denn der am deutlichsten hervorstechende Aspekt von Gleisdreieck (benannt nach der Gegend in Berlin, in der die heute 43-Jährige aufwuchs) ist: Soul auf Deutsch klingt bei ihr wie das Normalste der Welt, und dass man das mittlerweile nicht mehr überraschend finden muss, ist zu einem großen Teil ihr Verdienst. Die Rolle als Pionierin teilt sich Joy Denalane sicher mit ein paar anderen Verdächtigen. Trotzdem gilt: Die Erfolgsgeschichte dieses Genres wäre ohne ihre Leistung nicht vorstellbar.

Diese Selbstvergewisserung prägt Gleisdreieck, denn ganz explizit hat Joy Denalane dieses Album zum Anlass genommen, sich auf den Prüfstand zu stellen. „Ich habe mich gefragt: Was sind die Gedanken, die mich gerade wirklich umtreiben? Was habe ich zu sagen? Wer bin ich eigentlich?“, beschreibt sie die Ausgangssituation. Unterstützt haben als Produzenten (und teilweise auch als Songwriter) Tua, Alexander Freund, Ben Bazzazian und das Kahedi-Team, bei weiteren Kompositionen waren zudem Maxim, Jasmin Shakeri, Ali Zuckowski, David Jürgens, Max Herre und Martin Fliegenschmidt mit am Werk. Als Gäste sind etwa Rin, Eunique und Marteria im Gepäck.

Das Ergebnis könnte man fast als Konzeptalbum betrachten, so sehr prägen Rückblick und Reflexion die Platte. Gleich das Intro begibt sich auf Sinnsuche, später geht es beispielsweise um Kinder, die flügge werden (Vorsichtig sein), die Tatsache, dass sich Älterwerden irgendwann auch optisch bemerkbar macht (RotSchwarz), den schon wieder geplatzten Traum, diesmal das große Los gezogen zu haben (Stadt), oder ein Gespräch mit ihrer 2001 verstorbenen Mutter (Zuhause).

Der Auftakt Himmel berühren verbreitet ansteckende Zuversicht, aber nicht gespeist aus der Hoffnung auf ein wohlwollendes Schicksal, sondern aus dem Vertrauen in die eigenen Stärken und Möglichkeiten. So sieht man sich wieder seziert oberflächliche Begegnungen mit hohlen Pseudo-VIP-Freunden: „Ich wäre gern weniger wie ihr“, lautet dabei die Erkenntnis. „Diese Platte ist auch deswegen so ehrlich, weil sie geprägt ist vom Austausch mit Freunden und Kollegen, die mir ganz unbefangen Fragen über mein Leben gestellt haben, auch unbequeme. (…) Wenn du über deine Verletzungen sprichst, findest du sie wieder. Im Resultat hat das der Platte gut getan – und es hat auch mir gut getan“, sagt Joy Denalane.

In manchen Momenten ist Gleisdreieck auf fast schockierende Weise intim und reif. An erster Stelle ist da Hologramm zu nennen: Das Lied legt eine sich langsam selbst zerstörende Beziehung offen. „Wo hat das nur angefangen / und wann kam der Punkt, an dem die Spuren sich verloren?“, heißt die Frage im Text. Es gibt für diese ehemals Liebenden keine Zukunft und keine Hoffnung mehr auf Rettung, nur noch ein quälendes Auseinanderleben und den Versuch, wenigstens im Rückblick erkennen zu können, was man hätte besser machen können – um etwas zu lernen, vielleicht für die nächste Beziehung. Ähnlich gerät auch Zwischen den Zeilen, über ein fehlendes Bekenntnis des Partners, das sich anfühlt, als sei die eigene Liebe ins Leere gerichtet.

Diese Liebeslieder jenseits von rosarot sind eine große Stärke der Platte, sie profitieren auch davon, dass Joy Denalane nicht zu explizit wird. B.I.N.D.A.W. steht für „Blut ist nicht dicker als Wasser“; was sie genau damit meint und wen sie anspricht, bleibt aber erfreulich rätselhaft. Wieder gut spricht sein Thema auch in keinem Moment aus: Es ist die Antwort auf einen unberechtigten Eifersuchts-Vorwurf, der sich gar nicht schlecht anfühlt, weil er die Aufmerksamkeit des vermeintlich Betrogenen beweist. Selbst mit den Möglichkeiten ihrer Stimme hält sich Joy Denalane auf dieser Platte absichtlich zurück. „Ich habe diesmal bewusst nicht das gesamte Sängerspektrum ausgepackt. Mir waren andere Dinge wichtiger: ein Wort zu transportieren, eine Geschichte zu erzählen und vor allem ein Gefühl zu vermitteln“, sagt sie.

Bei 18 Songs inklusive zwei akustischen (und sehr hübschen) Bonustracks bleiben allerdings auch ein paar Fehlgriffe nicht aus. Schlaflos ist etwas schwach, auch der Gastauftritt von Megaloh ändert daran nichts. Auch in Deshalb hat man den Eindruck, der Gastauftritt (diesmal von Ahzumjot) soll davon ablenken, dass der Track dazu neigt, Romantik mit Harmlosigkeit und Langeweile zu verwechseln.

Gleisdreieck beweist freilich auch, was Joy Denalane weiterhin beherrscht wie fast niemand sonst im deutschen Pop: Die Single Alles Leuchtet (hier in zwei Versionen vertreten) hat beeindruckenden Glamour, Venus&Mars ist hauchzart und auch dank seiner prominenten Gitarre sehr sexy. All das unterstreicht die wichtigste Eigenschaft des Albums: Gleisdreieck ist gerade durch die Bereitschaft, sich Schwächen einzugestehen, auf eine sehr selbstbewusste Weise elegant.

Kalt und grau: Das Video zu Hologramm ist ebenfalls in Berlin entstanden.

Website von Joy Denalane.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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