Künstler | Kamikaze Girls | |
Album | Seafoam | |
Label | Big Scary Monsters | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Man könnte Lucinda Livingstone, Sängerin und Gitarristin der Kamikaze Girls, die auch alle Texte des Punk-Duos aus Leeds schreibt, für eine sehr larmoyante Person halten. Die Texte auf dem gerade erschienenen Debütalbum wimmeln vor Zeilen voller Hilflosigkeit, Sehnsucht nach Schutz und dem Wissen um die eigene Verletzlichkeit. Man will fast sauer auf sie werden, so prominent ist hier die Frau in der Opferrolle vertreten. „No one could ever help“ (Berlin), „All those teenage feelings / they’re overwhelming“ (Teenage Feelings), „Rain, rain on me / I’m good for nothing“ (Good For Nothing), „All I ever needed was a space to feel save“ (Unhealthy Love) oder „You’ll fix my depression“ (Lights & Sounds) sind nur die offensichtlichsten Beispiele dafür.
Es gibt zwei Gründe, warum man mit diesem Vorwurf einen schweren Fehler machen würde. Erstens: Lucinda Livingston ist tatsächlich ein Opfer. Vor ein paar Jahren wurde sie auf dem Weg zur Arbeit überfallen und ausgeraubt. Sie erlebte, was es heißt, in den Lauf einer Waffe zu schauen und zu wissen, dass das eigene Leben nur davon abhängt, ob ein Mann, dem Gesetze, Moral und Mitgefühl schon lange egal zu sein scheinen, gleich seinen Zeigefinger bewegt. Danach hatte sie mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen, auch vorher litt sie schon an Depressionen und Angstzuständen.
Mit ihrem Bandkollegen Connor Dawson (Schlagzeug) schafft sie es, diese Themen nicht nur für sich selbst zu verarbeiten, sondern verschafft ihnen auch ein Forum. Die Kamikaze Girls, benannt nach einer japanischen Komödie, sind ein Vehikel, um mehr Aufmerksamkeit und Sensibiliät für psychische Krankheiten und Gender-Themen zu generieren, bei Betroffenen ebenso wie anderswo. „I’ve had some real problems in my lifetime dealing and living with mental health issues. I’ve not really felt comfortable talking about it until more recently. I feel like it’s important to talk about these things because people consider them ‘awkward’ topics. I used writing music as a means to channel it and I felt a lot better for writing music and going to shows and being able to put my time and energy into something I loved so much really helped me“, hat Lucinda Livingstone im Interview mit Echoes And Dust erzählt. Die Homepage der Band hat passend dazu die Adresse itsokaytobesad.com.
Der zweite Grund hängt damit zusammen und wird in I Don’t Want To Be Sad Forever, dem Abschluss von Seafoam, besonders deutlich. Auch da klingt schon der Songtitel nach Selbstmitleid, erst recht, wenn man weiß, dass der Text mit „but I know I’ll probably will be“ fortgesetzt wird. Aber es geht in diesem Lied nicht um Befindlichkeit, um persönliche Probleme oder die Unfähigkeit einer jungen Frau, sich zusammenzureißen und gemäß der gesellschaftlichen Konventionen zu funktionieren. Vielmehr zeigt das Lied auf, dass es gerade diese gesellschaftlichen Konventionen und Rahmenbedingungen sind, die sie traurig machen, die eigentlich jeden halbwegs sensiblen Menschen untröstlich machen sollten. Auf sehr poetische Weise stellt der Text die Realität und ein Ideal gegenüber („We don’t need more guns / we need lovers“), das Ergebnis ist nicht nur bewegend, sondern auch kraftvoll, zusammengefasst in der Botschaft: „We need to fix this together / and we need to fix this now.“
Wer die Kamikaze Girls, die 2014 ihre erste Single veröffentlichten und 2016 die EP Sad folgen ließen, nun für eine verkappte Selbsthilfegruppe und Seafoam für einen lahmen Trauerkloß hält, liegt ebenfalls völlig falsch. Mit einer Attitüde, die etwa an die Dum Dum Girls oder Bleached erinnert und einem Sound, der mal Metal-Ästhetik bietet (One Young Man), manchmal fast lupenreiner Punk wird (Berlin), aber auch viele schöne Melodien enhält, die manchmal sogar strahlen dürfen (Teenage Feelings) oder einfach klasse Rocksongs bietet (Deathcap), macht das Album großen Spaß.
Shoegaze scheint ein prägender Einfluss gewesen zu sein (live ist bei den Kamikaze Girls ein Rack mit einer zweistelligen Anzahl von Effektgeräten im Einsatz), was sich etwa in Weaker Than zeigt. „I finally recognised I’m sick“, singt Lucinda Livingston über den Moment, in dem der Abgrund nicht nur eine Ahnung blieb, sondern sie ihn tatsächlich erkannt hat, weil sie längst hineingestürzt war. Vorgetragen wird das nur mit ihrem Gesang und der Gitarre mit ganz viel Hall. Manchmal kann man sich an die frühen Cranberries erinnert fühlen, in KG Goes To The Pub klingen (wie passend) Therapy? an, nicht nur im Gitarren- und Schlagzeugsound, sondern auch im Wissen um die Macht des Repetitiven und im Talent, einen extrem eingängigen Refrain zu schreiben. „You knocked me off my feet / but not in the right way“, heißt es mit ganz viel Wut, Stolz und Schmerz – all das scheint direkt aus ihren Eingeweiden zu kommen, zugleich ist es die Warnung: Leg dich bloß nicht (noch einmal) mit mir an!
Mit Anxious gibt es noch einen Bonustrack, der das Prinzip der Kamikaze Girls gut zusammenfasst. „I’m the most broke I’ve ever been“, ist wieder so eine Zeile über einen Tiefpunkt, der Ende 2016 eingetreten war, als die Band von einer Tour zurückkam. „Ich hatte keinen einzigen Penny mehr in der Tasche und nichts, das auf der anderen Seite des Flughafens auf mich wartete – das war hart. Was folgte, war eine sehr schwierige Zeit ohne festen Wohnsitz, zugleich rückte die Aufnahme des neuen Albums immer näher. Ich hab mich die meiste Zeit selbst nur verrückt gemacht. Auf Tour hatten wir noch einen geregelten Alttag, doch das war nun alles vorbei“, sagt Lucinda Livingston. „Die meisten Songs auf Seafoam habe ich in dieser Zeit geschrieben, als ich in dieses tiefe Loch fiel. Ich glaubte, keine wirkliche Perspektive zu haben fühlte mich dabei auch noch zu betäubt, um irgendetwas dagegen zu unternehmen.“ Angesichts dieser Umstände darf man Seafoam als Triumph betrachten, über das eigene Leid und die vermeintliche Perspektivlosigkeit, vor allem aber als einen sehr wirkungsvollen Schlag in die Fresse der eigenen Ohnmacht.