Lina – „Ego“

Künstler Lina

Lina Ego Kritik Rezension
„Ego“ ist farbenfroh und glaubwürdig.
Album Ego
Label BMG
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Der wichtigste Auftrag der shitesite ist natürlich die Geschmacksbildung der record buying public. Insbesondere die verwirrten jungen Menschen sollen in diesem ehrenwerten Blog (sofern sie noch lesen können) lernen, was gute Popmusik ist. Der Blick auf die Charts zeigt allerdings Woche für Woche, wie grandios dieser Auftrag scheitert. Jetzt kommt es noch schlimmer: Junge Menschen empfehlen mir, was gute Popmusik ist.

Denn auf Lina komme ich durch Pia. Letztere ist meine Nichte, 12 Jahre alt, sehr geschmackssicher und extrem cool. Erstere haben wir, als Pia noch ein bisschen kleiner war, gemeinsam auf DVD gesehen: Lina spielt seit 2013 die Bibi Blocksberg in den Bibi & Tina-Filmen. Und genau diese Lina soll nun angeblich tolle Musik machen. Behauptet Pia.

Was soll ich sagen? Es stimmt. Lina Larissa Strahl, die demnächst Englisch und Geschichte an der Uni Hamburg studieren will, ist nicht nur extrem erfolgreich (neben der Kinokarriere gab es für ihr erstes Album Official eine Echo-Nominierung als „Künstlerin Pop National“, 35 Wochen in den Charts und zwei ausverkaufte Tourneen), sondern auch gut. Ein Song wie Glitzer, Auftakt ihres heute erscheinenden zweiten Albums Ego, zeigt das: „Sieht die Welt beschissen aus / schmeiß ganz einfach Glitzer drauf“, lautet das Motto, der Sound dazu ist sofort eingängig, plakativ und glamourös, das Video natürlich in Snapchat-Optik.

Wer jetzt pubertäre Oberflächlichkeit wittert, hat bei Lina nur teilweise recht. Natürlich haben die meisten Lieder auf Ego eine kurze Halbwertszeit. Das Album ist ein buntes Knallbonbon, manchmal naiv und in einigen Momenten sehr kalkuliert auf 12-jährige Mädchen als Publikum zugeschnitten. Aber das gilt für viele große Popsongs, und insgesamt zeigt Lina hier mehr Blick über den Tellerrand des eigenen Smartphones und auf die Welt jenseits der eigenen Erfolgs-Blase als man das etwa bei Cro oder Wanda erleben kann, obwohl die sich keineswegs als Bubblegum definieren, sondern als Künstler.

Vor allem schafft es die 19-Jährige, das Lebensgefühl von Teenagern sehr glaubwürdig rüberzubringen. Fast alles im Leben ist für sie und ihre Generation medial vermittelt (Unser Film, Lieblingslied), man hat vor lauter adoleszenter Empfindsamkeit öfter einen Durchhänger und muss Mut zugesprochen bekommen (Leicht), man hat hoffentlich noch öfter Lust auf Spaß (das von Bläsern angetriebene 100 Prozent platzt beinahe vor Übermut, Unbeschwertheit und Optimismus), man hasst Mathe und liebt seine Freunde (Unterm Strich, in dem Linas Boyfriend Tilman Pörzgen ein bisschen rumkrakelen darf), und manchmal ist man froh, dass man auch noch ein bisschen Kind sein darf (Na Und?!, das zwischendrin kurz die Melodie von Outkasts Ms Jackson übernimmt).

Auch der zweite Vorwurf ist schnell ausgeräumt: der Max-Giesinger-Verdacht. Lina hat sich keineswegs zeitgemäße Popsongs von der Stange eingekauft, von Lieferanten, die jeden zweiten Act im Radio mit Material versorgen. Blickt man auf die Songwriter des Albums, entdeckt man viel eher eine Liste, die mit „Die schlechtesten Bandnamen aller Zeiten“ überschrieben sein könnte.

Co-Autor von Zu Jung ist Kevin Schneeberger (ehemals Norman Die). „Ich bin zu jung für diesen Scheiß“, singt Lina darin, und man ahnt, was Kate Nash, deren Sound hier nachgeahmt wird, alles losgestoßen hat. Außerdem taucht Jan Sievers (ehemals Blindtext, er hat auch mal ein Lied für Annett Louisan gemacht) auf, zweimal war Konrad Wissmann am Werk (seine frühere Band hieß Ruben Cossani), etwa im wunderbaren Tanzen ist Gold. „Reden ist Silber / Tanzen ist Gold“, heißt der Refrain, auch der Rest ist ein toller Pop-Text über einen dieser Momente, wenn die Welt jenseits der Tanzfläche nicht mehr existiert. Am Titelsong Ego hat Anni Dane mitgewirkt, das Ergebnis klingt, als habe jemand Tokio Hotel mit Coldplay und Tatu gekreuzt (was man sich jetzt bildlich lieber nicht vorstellen möchte).

Alle anderen Songs hat Lina mit Ludi Boberg geschrieben, der auch schon für Helene Fischer und Michelle komponiert hat. In seinem Studio (in der Liste der Referenzen findet man auch Prinz Pi oder Glasperlenspiel) wurde Ego auch aufgenommen. Wie groß der Anteil der Sängerin an den Kompositionen war, wird zwar nicht deutlich, dass ihr Name in den Credits bloß als Glaubwürdigkeits-Alibi auftaucht, ist indes nicht anzunehmen: Schon bevor sie als Schauspielerin aktiv war, gewann Lina Larissa Strahl einen Songwriting-Wettbewerb im Kinderkanal.

Allein auf Basis der Songs eine klare Identität für Lina zu finden, ist indes schwierig, aber das gilt auch bei Taylor Swift oder Beyoncé. Fast jedes Lied könnte auch von Juli sein, von Nena oder Lena. Auch Bosse könnte man in dieser Reihe nennen, denn Indie-Elemente und Gitarren sind auf Ego erstaunlich prominent vertreten. Die erste Strophe von Dreist beispielsweise könnte man sich 1:1 von Kraftklub vorstellen, danach wird das Lied allerdings zu plump und klingt eher, als hätten Die Ärzte als neue Begleitband bei Tic Tac Toe angeheuert. Auch Fan von dir erinnert (wenn auch nicht im Sound) an die Band mit K, denn der Track arbeitet mit der Umkehrung derselben Perspektive, die schon Kraftklub bei Unsere Fans so wirkungsvoll eingesetzt haben: Nicht Lina wird hier von den Fans vergöttert, sondern sie liebt ihre Fans. Spiel wäre ein sehr guter Popsong, egal wer als Interpret fungiert, und bringt das Album nach einem Durchhänger in der Mitte wieder in die Spur.

Nach Haus ist als vorletzter Song des Albums der gefühlte Rausschmeißer, dem Lied hört man an, dass es wohl als Schlussnummer für die anstehende Tour geschrieben ist. Ich werde hingehen. Mit Pia als Alibi.

Party, Freunde, Lagerfeuer: das Video zu Glitzer.

Im Frühjahr ist Lina ein „Fan von dir“ auf Tour.

23.02.2018 Erfurt | Stadtgarten
24.02.2018 Leipzig | Haus Auensee
25.02.2018 Nürnberg | Löwensaal
27.02.2018 München | TonHalle
28.02.2018 Wien | Gasometer
02.03.2018 Basel | Rhypark
03.03.2018 Zürich | Volkshaus
04.03.2018 Saarbrücken | Garage
06.03.2018 Stuttgart | Im Wiezemann
07.03.2018 Frankfurt | Batschkapp
13.03.2018 Dresden | Alter Schlachthof
14.03.2018 Bremen | Schlachthof
15.03.2018 Hamburg | Große Freiheit
17.03.2018 Münster | Jovel
18.03.2018 Berlin | Columbiahalle
20.03.2018 Dortmund | Phönixhalle
21.03.2018 Köln | Live Music Hall

Website von Lina.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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