Hingehört: Mari Samuelsen – „Nordic Noir“

Künstler Mari Samuelsen

Nordic Noir Mari Samuelsen Kritik Rezension
Auf Soundtracks spielt der Titel von „Nordic Noir“ an.
Album Nordic Noir
Label Decca
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Von Fernsehunterhaltung verstehe ich ein wenig, deshalb weiß ich, dass mit Nordic Noir normalerweise skandinavische Krimis gemeint sind, die hierzulande gern nach dem Tatort laufen und besonders düster, besonders perfide und gerne auch besonders explizit sind. Darauf nimmt die Norwegerin Mari Samuelsen im Titel ihrer ersten Aufnahme als Solistin also Bezug.

Ich habe allerdings keinerlei Ahnung von klassischer Musik. Ich kann im Hinblick auf dieses Album, das mir ihre Plattenfirma netterweise trotzdem (und ungefragt) geschickt hat, deshalb eigentlich nur die Fakten referieren. Mari Samuelsen spielt Geige, sie wird auf dieser Platte begleitet von ihrem Bruder Hakon Samuelsen (Cello) und den Trondheim Soloists. Die Musik stammt von zeitgenössischen skandinavischen Komponisten wie Johan Söderqvist, Uno Helmersson und Frans Bak (einige von ihnen haben tatsächlich sehr erfolgreich die Musik für Krimi-Verfilmungen geschrieben), teilweise sind es bereits bekannte Stücke, teilweise wurden sie eigens für Nordic Noir komponiert. Im Mai 2017 wurde das Werk im Barbican Centre in London erstmals live aufgeführt.

Dass diese Rezension damit nicht zu Ende ist, sondern doch noch eine Wertung enthält, habe ich Marcel Proust zu verdanken. Dessen Romanfigur David Swann schwärmt im Roman Eine Liebe Swanns mehrfach von einem ganz besonderen Musikstück (Vorlage dafür war wahrscheinlich eine Violinsonate von César Franck oder Gabriel Fauré). Jedes Mal, wenn er dieses Stück hört, übt es eine fast magische Wirkung auf ihn aus und verändert, wie es an einer Stelle heißt, die „Proportionen seiner Seele“. Und dies geschieht gerade, weil Swann ebenfalls ein Laie ist, weil er die Musik nicht fachmännisch sezieren kann, sondern ihren Reiz unmittelbar auf sich wirken lässt: „Vielleicht war es, weil er von der Musik nichts verstand, dass er einen so unklaren Eindruck haben konnte, einen jener Eindrücke jedoch, die vielleicht die einzigen rein musikalischen sind, da sie an keine Dimension gebunden, völlig ursprünglich und auf keine andere Kategorie von Sinneseindrücken zurückführbar sind. Ein Eindruck dieser Art ist einen Augenblick lang sozusagen ’sine materia‘. Zweifellos neigen die einzelnen Töne, die wir hören, je nach Höhe und Stärke dazu, vor unseren Augen Flächen von verschiedener Größe zu bedecken, Arabesken zu beschreiben, Empfindungen von Breite, Schmalheit, Massivität oder spielerischer Leichtigkeit zu vermitteln. Doch die Töne sind schon verrauscht, bevor noch die Empfindungen in uns so deutlich geworden sind, dass sie nicht von denen überflutet würden, die aus den folgenden oder sogar schon zur gleichen Zeit erklingenden entstehen.“

Diese Methode habe ich auf Nordic Noir angewandt und die Bilder notiert, die durch die Musik von Mari Samuelsen (zumindest bei mir) im Kopf entstehen. Legen wir los:

Timelapse: Klavier und Geige bauen gemeinsam Spannung auf und scheinen sich erst reichlich Zeit dabei zu lassen, dann wird die Stimmung doch sehr plötzlich brenzlig. Das passende Bild dazu ist ein Gewitter, das man schon lange heraufziehen sah, von dessen Heftigkeit man dann aber doch überrascht wird.

Near Light: Ein Segelflug, bei dem man schon kurz nach dem Start glaubt, über einem völlig unbekannten Kontinent zu schweben.

The Mist (Parts 1-3). Ein königlicher Hofstaat, der gemächlich in einer Region Einzug hält, die er nicht allzu häufig besucht (Teil 1). Ein schüchterner Flirt von zwei filigranen Wesen (Teil 2). Die Musik, die von der Kapelle der Titanic in fast 4000 Metern Tiefe wohl noch immer gespielt wird (Teil 3).

Darf Ich. Die Musik im Kopf von jemandem, der gleich eine sehr traurige Nachricht überbringen muss und darüber mehr und mehr in Panik gerät.

Love & Rage. Ein Kind, das aus einem unruhigen Schlaf an einem ihm unbekannten Ort aufwacht, den es danach genauso faszinierend wie bedrohlich findet.

Prelude To Study In Rituals. Ein Wald, der unter der Schneelast und Kälte eines ganzen Winters ächzt.

Study In Rituals (Parts 1 & 2). Waisenkinder, die versuchen, ein Ballett in einem Moor aufzuführen (Teil 1). Zwei Elche, die um ihr Revier kämpfen und sich dabei durchaus der eigenen Majestät bewusst sind (Teil 2).

Vel komne med aera. Eine Frühlingswiese, die zum Leben erwacht, und dabei die Erinnerung an den Herbst noch nicht ganz vergessen (beziehungsweise schon den nächsten Herbst im Sinn) hat.

Words Of Amber. Ein Drachen, der herrenlos im Wind aufsteigt, und nach und nach die Tatsache zu genießen lernt, dass da niemand ist, der ihn bändigt oder steuert.

Ist das virtuos, bahnbrechend, oder irgend etwas anderes, das bei klassischer Musik als wichtiges Kriterium für Qualität gilt? Das sollen andere beurteilen. Schön ist es auf jeden Fall. Und noir ist es auch.

Schnee und Wald scheinen schon einmal zuzutreffen, zeigt das Video zu Timelapse.

Website von Mari Samuelsen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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