Künstler | Paul McCartney | |
Album | Pure McCartney | |
Label | Universal | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung |
Er habe eigentlich immer noch keine Ahnung, wie man Songs schreibt, hat Paul McCartney kürzlich in einem Interview gesagt. Bei jedem neuen Album, das er angeht, fühle er sich wie ein blutiger Anfänger. „You’ve never got it down. Music is fluid, and I like that. I wouldn’t like to be blasé and think ‘I know how to do this.’“
Wie falsch er damit liegt, beweist die gerade erschienene Best-Of-Sammlung Pure McCartney. Sie fasst, vom Künstler selbst zusammengestellt, die Highlights seiner Karriere nach den Beatles zusammen. Erhältlich ist die Compilation in drei Versionen: als Doppel-CD (39 Tracks, was bereits mehr als zweieinhalb Stunden Spielzeit bedeutet), als Vierfach-CD (67 Tracks) und als vierfach-Vinyl (41 Tracks).
Pure McCartney führt nicht nur vor Augen, wie viele Hits Paul McCartney, der morgen 74 Jahre alt wird, auch nach der Zeit in der berühmtesten Band der Welt hatte. No More Lonely Nights (das ist nicht oberflächlich, sondern die Definition von mellow), Mull Of Kintyre (das ist nicht Novelty, sondern eine Hymne), Ebony And Ivory (das ist nicht Kitsch, sondern die Definition von gekonntem Pop) – sie sind alle versammelt.
Die Werkschau ruft auch den schieren Umfang des Schaffens von Macca als Nicht-Beatle in Erinnerung, solo, mit den Wings oder als Teil der Firemen. Die Songs auf Pure McCartney reichen vom 1970er Solodebüt bis zu Hope For The Future, das vor zwei Jahren erschienen ist. Man darf sich gerne noch einmal die Zahlen vergegenwärtigen: McCartney war 8 Jahre bei den Beatles, seine Karriere danach umfasst 46 Jahre.
Diesen Begriff findet Sir Paul allerdings nicht ganz angemessen. „Das Wort ‚Karriere‘ ist vielleicht ein bisschen irreführend, denn für mich war es mehr ein musikalisches Abenteuer als ein richtiger Job,“ sagt Paul McCartney über seine Laufbahn. „Dass ich an so vielen und so unterschiedlichen Songs beteiligt war, macht mich glücklich und stolz, erfüllt mich aber gleichzeitig mit Erstaunen.“
Die Vielfalt der Genres ist in der Tat eine weitere Qualität von Pure McCartney. Der Mann, der noch immer gerne in erster Linie mit seichten Popsongs assoziiert wird, zeigt hier unzählige verschiedene Gesichter. Only Mama Knows ist die eindringlichste Erinnerung daran: Paul McCartney hat mal Lederjacken getragen, und nicht nur, weil es alle anderen in seiner Band auch getan haben . Auch Save Us hat viel Drive und Punch, da steckt tatsächlich Ehrgeiz drin und der Wille, es irgendwem noch zu beweisen.
Was am Anfang des wundervollen Silly Love Songs passiert, könnte Industrial sein. Was dann kommt, müsste man natürlich cheesy nennen, wenn es nicht so verdammt schön wäre. Maybe I’m Amazed packt die ganze Karriere von Billy Joel in einen einzigen Song – und zwar ein Jahr, bevor Billy Joel 1971 überhaupt sein Debütalbum veröffentlichte. The World Tonight könnte man sich gut von den Travelling Wilburys vorstellen, und mit Jeff Lynne ist zumindest einer von denen auch tatsächlich dabei.
Goodnight Tonight beweist: Man ist nicht automatisch funky, wenn man ein Bassist ist, aber man wird es sehr schnell, wenn man ein so guter Bassist ist und so viel von Musik versteht. Auch Nineteen Hundred And Eighty Five kann als Beleg dafür dienen, und ist wirklich nicht unendlich weit weg von dem Sound, der 1985 – also zwölf Jahre nach der Aufnahme dieses Songs – tatsächlich angesagt war.
Die Songs aus fünf Jahrzehnten führen auch vor Augen, wie sehr Paul McCartney an den Beatles hängt und wie wenig er – anders als beispielsweise John Lennon unmittelbar nach dem Ende der Fab Four – versucht hat, mit ihrem Sound zu brechen. Ein Song wie Uncle Albert/Admiral Halsey hätte 1:1 auf Abbey Road gepasst, eigentlich sogar schon auf Sgt Pepper. In Wanderlust sind anderthalb Beatles (Ringo Starr und George Martin) als Mitstreiter dabei, und das hört man auch.
Das verspielte Heart Of The Country changiert zwischen Kinderlied und durchgeknallt, eine Spielart, für die auch die Beatles schon ein Faible hatten, siehe Octopus’s Garden, Yellow Submarine oder gefühlt die Hälfte vom Weißen Album. Vier Songs in einem bietet Band On The Run – das ist schon wieder ein Genre, das er (mit den Beatles) erfunden hat. Live And Let Die zeigt, dass Pop nicht nur orchestral sein kann, sondern echte Kunst. Dieser Gedanke fühlt sich hier, nicht einmal zehn Jahre nach Sgt. Pepper, schon beinahe normal an, und zugleich gehört der Track noch immer zu den 190 spektakulärsten Minuten, die je auf eine Platte gepresst wurden.
Auffällig ist zudem, wie gut diese Doppel-CD kompiliert ist. Pure McCartney funktioniert sehr gut als Mixtape, mit wunderbaren Übergängen. Ein Beispiel: Another Day entwickelt sich herrlich leichtfüßig vom leichten Schritt über eine Sommerwiese bis hin zum schnellen Galopp, der dann von den Percussions auch nachgeahmt wird. Danach erklingt Sing The Changes, das 37 Jahre später entstanden ist, sich aber nahtlos einfügt.
Umgekehrt funktioniert der Zeitsprung an einer anderen Stelle: Jenny Wren ist einer der aktuelleren Songs und verdeutlicht gerade durch das reduzierte Arrangement, dass vielleicht keine andere Stimme in der Geschichte der Popmusik so viel Freude und Glück zu den Menschen gebracht hat wie die von Paul McCartney. Danach gibt es Mrs Vandebilt, einen eher unbekannten Track vom Band On The Run-Album (1973), der aber so gut gealtert ist, dass er auch auf der aktuellen Tour fast jeden Abend zum Einsatz kommt.
„Mein Team und ich hatten keinen großartigen Plan für diese Sammlung, außer dass es Spaß machen sollte, das Album anzuhören. Das war alles“, umreißt Paul McCartney die Zielsetzung für seine insgesamt vierte Post-Beatles-Best-Of-Sammlung. „Vielleicht kann man es sich gut auf einer längeren Autofahrt anhören oder an einem Abend auf dem heimischen Sofa oder bei einer Party mit Freunden? Also setzten wir uns zusammen und am Ende hatten wir einige total buntgemischte Playlists aus den unterschiedlichen Phasen meiner langen und ereignisreichen Karriere.”
So bescheiden das klingt, so sehr sind diese 39 Songs natürlich auch Dokument seiner Könnerschaft. Listen To What The Man Said ist so heiter und beschwingt, dass man beinahe nicht bemerkt, wie komplex es ist. Jet platzt geradezu vor Ambitionen, Let ‘Em In zeigt, wie sehr Paul McCartney sein eigenes Genre geworden ist. Man kann sich kaum einen anderen Musiker vorstellen, der so einen Song machen (und hinbekommen) würde. With A Little Luck (von 1978) wirkt, als habe er damals schon gewusst, dass er knapp 20 Jahre später das Liverpool Institute of Performing Arts gründen und dort Unterrichtsmaterial für das Seminar „Wie ein prototypischer Popsong klingen muss“ brauchen würde. Auch Here Today vereint vortrefflich Schönheit mit Virtuosität.
Coming Up (bezeichnenderweise seine erste Single aus den Achtzigern) zeigt von den hier versammelten Tracks vielleicht am deutlichsten sein Bestreben, mit der Zeit zu gehen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass er damals nicht mehr derjenige war, der dem Trend voraus war oder wenigstens den Sound einer Ära definierte. Auch Arrow Through Me fällt in diese Kategorie: Es klingt so sehr nach 1979, dass es als Zeitkapsel funktionieren könnte.
Fast alle anderen Songs sind aber auf fast magische Weise zeitlos. Warm And Beautiful ist von 1976, könnte auch 30 Jahre jünger oder 30 Jahre älter sein, so klassisch klingt es. Beinahe wirkt dieses Lied, als habe jemand Paul McCartney die Aufgabe gestellt: Schreibe eine ultimative Liebesballade, aber mache sie besonders schön! Auch Too Much Rain oder Dance Tonight unterstreichen diese Qualität.
Nicht zuletzt zeigt dieses Greatest-Hits-Album auch, was Paul McCartney (geschätztes Vermögen: 930 Millionen Euro) nach wie vor antreibt, Songs zu schreiben, Platten aufzunehmen und Konzerte zu spielen. Es ist nichts anderes als die Liebe zur Musik.
The Song We Were Singing ist ein Beleg dafür, das sehr organisch und spontan wirkt, tatsächlich wie die pure Freude am Musizieren. Auch in Great Day betont gerade das reduzierte Arrangement den Spaß am Songwriting. My Valentine, seiner Frau Nancy gewidmet, macht deutlich, dass ein Popsong für ihn noch immer die beste (und vielleicht auch einfachste) Methode ist, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Auch Junk, ein wunderbarer Schlusspunkt für diese Compilation, zeigt ihn als jemanden, der bei allen Möglichkeiten, die sein Können, sein Status und seine Biographie bieten, immer wieder zum Kern der Musik zurückkehrt.
Vielleicht am meisten Einblick in die Kraft, die Paul McCartney antreibt, gibt ein vergleichsweise fragwürdiger Song wie Pipes Of Peace. Das Lied ist putzig, wenn man es gut mit ihm meint, und albern, wenn man kritischer ist. Aber wer diesen Mann leichtfertig als naiv abtut, vergisst: Paul McCartney propagiert die Sache mit den guten Menschen, der Kraft der Liebe und dem Frieden für alle seit mehr als einem halben Jahrhundert. Und wenn man ihn dieser Tage live sieht und miterlebt, wie 20.000 seiner Fans Let It Be singen, dann weiß man auch, warum er noch immer daran glaubt.