Hingehört: Robbie Williams – „Escapology“

Künstler Robbie Williams

Auf nach Amerika! Das war der Auftrag für "Escapology".
Auf nach Amerika! Das war der Auftrag für „Escapology“.
Album Escapology
Label EMI
Erscheinungsjahr 2002
Bewertung

Wenn man an verzweifelte Sänger auf Sinnsuche denkt, dann werden normalerweise grantige Männer wie Leonard Cohen, Mark Everett oder meinetwegen Will Oldham genannt. Es dürfte im Jahr 2002 allerdings keine andere Platte gegeben haben, in der so viel Orientierungslosigkeit, Zynismus und pure Verzweiflung gesteckt haben wie in Escapology von Robbie Williams.

“Half of the album it is written from the standpoint of ‘Look, this is really me with my tears of a clown. Do they love me or hate me?’ The rest of it is about somebody that I have to think I am to get up onstage. Because little me wouldn’t get up there. It’s too scary!”, hatte Robbie Williams damals seine Themen umrissen. Alex Bilmes vom Esquire bestätigte diese These zehn Jahre später: „Escapology is echt Robbie. It is Robbie at his most Robbie: alternately heartfelt and hilarious, scabrous and sensitive.“

“I haven’t got a clue what to do with you”, singt der damals 28-Jährige schon im (seltsam unmotivierten) Opener How Peculiar. Später heißt es im (überambitionierten) Love Somebody: „Trying to love somebody / just wanna love somebody right now“ – man ahnt, dass er damit keine körperliche Liebe meint, und deshalb klingt es umso schockierender. Und im (solide rockenden) Monsoon steckt eine riesige Dosis Bitterkeit, wenn man bei Zeilen wie „Don’t want to piss on your parade / I’m here to make money and get laid“ niemals genau ermitteln kann, wie viel Ironie und wie viel Wahrheit nun wirklich darin steckt.

Kein Wunder: Zusätzlich zu den Dämonen, die ihn ohnehin umtrieben (“The man was at one and the same time a riddle hidden in an enigma and also the most nakedly exposed psyche in pop”, fasst Bilmes seine Situation im Jahr 2002 wunderbar zusammen), hatte sich Robbie Williams für sein fünftes Soloalbum noch eine riesige Portion Erfolgsdruck und Verantwortung aufgeladen. In Ziffern: eine 80-Millionen-Pfund-Verantwortung. So viel hatte EMI für den neuen Vertrag mit ihm bezahlt.

Zu den Gegenleistungen sollte unter anderem gehören, dass die Plattenfirma mehr Einfluss auf das Song-Material bekam und Robbie alles in die Waagschale werfen sollte, um endlich auch den amerikanischen Markt zu knacken und damit endgültig der größte männliche Popstar des Planeten zu werden. Aufgenommen wurde das Album in Los Angeles, was damals auch gerade Robbies neuer Wohnort geworden war. Für den US-Markt erschien Escapology extra mit einer anderen Songauswahl, schaffte es trotz größter Promotion-Anstrengungen letztlich aber trotzdem nur auf Platz 43 der Albumcharts.

Das könnte daran liegen, dass britische Pop-Größen damals traditionell Schwierigkeiten auf dem US-Markt hatten. Zudem hatten die Amerikaner ihre eigenen Ex-Teeniestars, die sich als erwachsene Pop-Sänger neu erfinden wollten (2002 erschien beispielsweise das erste Soloalbum von Justin Timberlake). Es könnte aber auch daran liegen, dass Escapology, vor allem im Vergleich zum Meisterwerk Sing When You’re Winning, ein paar deutliche Schwächen hat. In den Liner Notes der 2011 erschienenen Neuauflage des Albums bezeichnet Alex Bilmes die Platte als „arguably Robbie’s most complete and convincing collection of songs to date“. Doch darüber kann man tatsächlich streiten.

Song 3 ist überflüssiger Lärm. Cursed ist allenfalls Durchschnitt. Handsome Man ist (trotz der schönen Zeile „I’m the one who put the ‘brit’ in ‘celebrity’“) einer der nicht zündenden  Rocker, wie man sie durchaus schon öfter von Robbie Williams erlebt hatte. Auch der Funk von Revolution misslingt, obwohl der Song ansonsten sehr niedlich wird und einer der wenigen Momente auf diesem Album ist, der Wärme ausstrahlt – auch durch die zweite Stimme von Rose Stone. Im Hidden Track How Peculiar (Reprise) macht Robbie wenig überzeugend den Aushilfs-Liam zu Oasis-by-numbers-Musik.

Dem Erfolg im Rest der Welt tat das freilich keinen Abbruch. Escapology war das meistverkaufte Album des Jahres 2002 in England, weltweit hat es bis heute mehr als sechs Millionen Exemplare abgesetzt. In Deutschland gab es in den Nullerjahren nur vier Alben, die sich noch besser verkauft haben. Und natürlich hat die Platte genug zu bieten, was auch heute noch begeistert.

Me And My Monkey ist nicht nur atmosphärisch gelungen. Nan’s Song, der erste Song auf einem Robbie-Williams-Album, den er ganz alleine geschrieben hat, ist putzig und rührend. Hot Fudge ist großartiger, ambitionierter Pop, textlich und musikalisch mit genau der Selbstverständlichkeit, die Sing When You’re Winning ausgezeichnet hatte. Something Beautiful bietet viel Eleganz und einen interessanten Kontrast aus der lässigen, fast gesprochenen Strophe und dem opulenten Refrain.

Und dann sind da ja noch die drei weiteren Singles. Sexed Up bietet mit dem Vorschlag „Why don’t we break up?“ die ungewöhnlichste denkbare Refrainzeile für so einen zauberhaften Popsong. Und auch die beiden Über-Hits dieses Albums erlauben sich solche Boshaftigkeiten. Mehr noch: Sie treiben in den Texten die mitunter schmerzhafte Selbstveräußerung auf die Spitze, mitten im himmlischsten Schönklang. Viele dieser Zeilen wirken eine Lache aus Blut, Pisse und Kotze inmitten einer Idylle, wie zerstückelte Leichen in einer Landschaft aus Palmen, Schäfchenwolken und Sonnenschein.

“There’s a hole in my soul / you can see it in my face / it’s a real big place”, heißt es in Feel, Robbie Williams besingt darin nichts anderes als die totale Isolation, endlose Einsamkeit, absolutes Verlorensein. Gerade, weil das höchst universell ist und nicht vor dem Extrem zurückschreckt, ist das nicht nur ein Hit, sondern eine Hymne geworden. Zudem steckt in Feel eine unwiderstehliche emotionale Unmittelbarkeit, die vielleicht daher rührt, dass der Gesang beibehalten wurde, der eigentlich nur für die Demo-Version gedacht war.

Noch besser ist Come Undone, der Höhepunkt von Escapology, vielleicht der Gipfelpunkt in Robbies Karriere überhaupt. All die Widersprüche, all die Zerrisssenheit dieses Charakters stecken darin, in einem schlicht grandiosen Lied. „So self aware, so full of shit“, singt Robbie, später dann „If I stopped lying I’d just disappoint you” und ausgerechnet im Refrain (!) auch noch: „Because I’m scum / And I’m your son / I come undone“. Beim nächsten Album sollte die Prognose mit dem Zerbrechen und Aus-den-Fugen-Geraten dann auch im Hinblick auf die musikalische Qualität eintreffen. Ausgerechnet Come Undone, das Robbie mit anderen Songwritern geschrieben hatte, führte zum Bruch mit seinem langjährigen Kompagnon Guy Chambers. Ohne ihn war er nie mehr so gut wie hier.

Kotze in der Idylle – das ist auch das Konzept zum Video von Come Undone.

Homepage von Robbie Williams.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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