Ry X – „Dawn“

Künstler Ry X

Ry X Dawn Kritik Rezension
Für Ry X ist „Dawn“ sein wirkliches Debütalbum.
Album Dawn
Label Infectious
Erscheinungsjahr 2016
Bewertung

Shortline ist, nach dem instrumentalen Titelsong zum Aufwärmen, der eigentliche Auftakt dieser Platte. Ry X macht darin die Vorsicht zur obersten Tugend für Gesang, Klavier und Streicher, am Ende ist der Track allerdings fast tanzbar, ohne dass man gemerkt hätte, wie oder wann sich diese Veränderung vollzogen hat.

In mancherlei Hinsicht kann das Lied damit als exemplarisch für Dawn stehen. Der Mann, der 2010 schon einmal ein Album herausgebracht hat, mit dem er allerdings nichts mehr zu tun haben will (“I didn’t like the record. I was on the wrong side of the canyon. I thought ‘This is not who I am, I don’t actually enjoy this’”, sagt er heute darüber), legt im Laufe dieser zwölf Tracks eine erstaunliche Entwicklung hin, von sanften Streichern und Folk-Gesäusel bis zu Songs wie dem ambitionierten Hold Me Love, das beinahe ganz ohne akustische Instrumente auskommt und stattdessen auf Techno-Einflüsse verweist, oder das clubtaugliche Deliverance.

Solch ein Horizont ist vielleicht nicht mehr ganz so erstaunlich, wenn man den Werdegang von Ry X (eigentlich: Ry Cuming) kennt: Er wuchs in Angourie auf, einer kleinen Insel vor der australischen Ostküste. Das Leben dort muss so beschaulich gewesen sein, dass es sich fast wie aus einem anderen Zeitalter anfühlt: Seine wichtigsten Tätigkeiten waren Schwimmen, Surfen und Ziegenmelken, sagt er.

“It’s been a real journey”, umschreibt Ry X dann die Jahre, nachdem er die Insel verlassen hatte. Fürwahr: Von Angourie führte sein Weg über Costa Rica, Indonesien, Stockholm, London und Berlin nach Los Angeles, wo er jetzt lebt. Unterwegs hat er nicht nur das mittlerweile verdammte Debütalbum gemacht und unter anderem als Opener für Maroon 5 gespielt, sondern auch mit den fantastischen The Acid gearbeitet und vor allem bei seinen Stationen in Europa reichlich Elektronik-Begeisterung eingesaugt.

Howling legt davon Zeugnis ab, das schon 2012 in Zusammenarbeit mit Frank Wiedemann (Ame) entstanden ist und auch heute noch klasse, subtil und spannend klingt. Mit Berlin gibt es noch einen alten Bekannten auf diesem Album, nämlich den Titeltrack der EP, die ihm 2013 den Durchbruch brachte. “It’s an anti-single”, wundert sich Ry X noch immer über den beachtlichen Erfolg des Lieds. “There’s something beautiful about a song like that being on the radio. It hurts my heart to hear it and I couldn’t record it like that again. There’s magic there.”

Es ist diese besondere Stimmung, die er auch für die anderen Songs anstrebte. Dazu zog er sich in die Einsamkeit der Berge zurück – und ganz in sich selbst. Only hört man das deutlich an. „I was only falling in love“, singt Ry X, und es steckt mindestens so viel Bedauern wie Entzücken in der Erinnerung an diesen Moment. Auch die Zeilen „We let love be like water to wine / we let love be the higher design / we let love be a call in the night / we let love be the fire divine“ in Salt wirken eher wie eine Erinnerung als wie eine Ankündigung.

Ry X schafft es, machmal wie William Fitzsimmons zu klingen wie im vom Picking geprägten Beacon. Sein Mund ist da wahrscheinlich ganz nahe am Mikrofon, man hört sogar die Finger über die Gitarrensaiten rutschen, und genau diese Intimität ist das Ziel dieser Platte. “These are live takes, sitting there like Neil Young or Nick Drake used to. It’s about holding tension – any fuck ups got left on so if I’m mumbling that’s how I delivered the vocal in an honest way. You’re really getting the feeling of someone sitting in a room playing the song”, beschreibt Ry X seinen Ansatz. Später beweist auch Sweat diese enorme Nähe. Der Song handelt von “the ghosts of past relationships and choosing between loves… you’re sweating in that situation, just as when you run or hit a boxing bag. That’s emotional sweat”, erklärt Ry X das wunderbar dazu passende Thema.

Haste ist zwar deutlich elektronischer, aber man kann darin nicht nur ein paar Sounds von Robyn wiedererkennen, sondern vor allem die emotionale Intensität. Lean fügt als perfekter Schlusspunkt alles zusammen, was Dawn ausmacht: filigrane Streicher, wundervoll minimalistisch eingesetzte Elektronik und ein riesiges Ausmaß an Sensibilität. „There’s an expectation now, but the music has always led and as soon as you step away from that you’re fucked”, hat Ry X nach dem Trubel rund um die Berlin-EP gesagt, und aus dieser Schlussfolgerung seine Maxime für das Album abgeleitet: “I had to make sure each song was a beautiful thing.” Das hat geklappt.

Traurig schön: das Video zu Only.

Website von Ry X.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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