Künstler | The Libertines | |
Album | Anthems For Doomed Youth | |
Label | Virgin | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung |
„Natürlich ist Popmusik zunächst und zuletzt Erinnerung. Das ‚Jetzt‘, das sie uns zuruft im Moment ihrer Entstehung wird in kürzester Zeit zu ‚Weißt du noch?‘ Die Liebe zur Popmusik ist die Liebe zum Gewesenen, zum Egoismus außerdem.“
Diese weisen Sätze hat der Musikkritiker Arne Wilander einst im Rolling Stone geschrieben, und sie sind der Grund, warum man Angst hat, wenn man das dritte Album der Libertines erstmals auflegt.
Wenige Bands sind mit so wenig Musik (die Gesamtspielzeit der bisherigen beiden Libertines-Alben beträgt 78:49 Minuten) so große Ikonen geworden. Denn Up The Bracket (2002) war ein Meisterwerk, auch der Nachfolger The Libertines (2004) noch geeignet, einer ganzen Generation den Glauben an Gitarrenmusik, Miteinander und die Kraft der Poesie wieder zu geben. Da war tatsächlich eine Band, die ein Momentum und eine aktuelle popmusikalische Relevanz erlangte, wie das die Beatles oder The Clash getan hatten – und es war ein Segen und ein Fest, das als Fan miterleben zu dürfen.
Doch das ist mehr als zehn Jahre her. Können vier Musiker, die mittlerweile alle die Grenze zur 30 deutlich überschritten haben und in der Zwischenzeit eher mit mittelprächtigen Nebenprojekten und diversen Skandalen für Schlagzeilen gesorgt haben als mit großartiger Musik, diesem Erbe noch gerecht werden? Diese Frage – und die Gefahr einer Blamage, einer irreparablen Schädigung des Libertines-Katalogs – schwebt über Anthems For Doomed Youth. Der NME hat dieses Problem so zusammengefasst: “Their first two albums were full of stories of drugs, hedonism, and the grit and grime of London. Now they’re no longer so much a part of those worlds, what could they write about that wouldn’t feel like they were parodying themselves?”
Verstärkt wird diese Sorge durch weitere Vorboten: Bei der Reunion für die Festival-Auftritte 2010, auch beim riesigen Gig im Hyde Park im Sommer 2014 machten die Libertines deutlich, dass es ihnen dabei in erster Linie ums Geldverdienen ging. Ein Schock für Fans war auch die Tatsache, das Anthems For Doomed Youth von Jake Gosling produziert wird, der unter anderem für den Erfolg von One Direction oder Ed Sheeran wichtige Beiträge geliefert hat – und somit nicht gerade als Aushängeschild von Punk, Anarchie und rotzigem Freigeist gelten kann.
Es gibt tatsächlich ein paar Elemente, die deutlich machen, wie schlimm dieses Album hätte werden können. Der Titelsong Anthems For Doomed Youth (der Name ist einem Gedicht von Wilfred Owen entnommen) gerät etwas langweilig und selbstverliebt, Fury Of Chonburi wird sehr wild, aber auch unausgegoren. Dead For Love hat als Abschluss der Platte viel Pathos, wird aber nicht die große Abschiedsgeste, als die es wohl gedacht ist.
Belly Of The Beast zeigt, wie wichtig der Part von Gary Powell für diese Band ist, sein Schlagzeug sticht auch deshalb hervor, weil der Rest der Musik eher uninspiriert ist. Und die Single Glasgow Coma Scale Blues versucht etwas krampfhaft, die alte Unbekümmertheit heraufzubeschwören – ähnlich wie die Bilder im Booklet, die improvisiert und nach Fanzine aussehen sollen und doch hochgradig stilisiert sind.
Diese Momente zeigen nicht zuletzt, wie groß das Wunder überhaupt ist, ein drittes Libertines-Album in den Händen halten zu können. Nach dem riesigen Output zu Beginn ihrer Karriere, als die Libertines gefühlt wöchentlich neue Lieder ins Netz stellten, hat es nun ganz offensichtlich einen Kraftakt gebraucht, um zwölf Songs hinzubekommen, die gut genug für ein Album sind. Vieles war in den elf Jahren seit The Libertines wahrscheinlicher, als dass es irgendwann ein drittes Libertines-Album geben würde. Man hätte eher auf eine erfolgreiche Schauspielkarriere von Carl Barat, den Drogentod von Pete Doherty oder meinetwegen ein neues Line-Up, in dem John Hassall und Gary Powell eine neue Frontfrau namens Kate Moss begleiten, gewettet.
Es gehört zu den Stärken von Anthems For Doomed Youth, wie präsent dieser Kampf auf dem Album ist: Die Libertines gehen offen, sogar schonungslos um mit den Querelen innerhalb der Band und mit dem eigenen Niedergang, der im Prinzip schon unmittelbar nach Erscheinen des Debütalbums begann.
„The world is fucked but it won’t get me down“, heißt es gleich im ersten Lied. Barbarians verbreitet die Gang-Mentalität, die bei den Libertines so ausgeprägt ist wie bei keiner englischen Band seit Oasis, der Bass sorgt für Aufgeregtheit, beim Refrain kann man nicht anders als an The Clash denken. In der Single Gunga Din, in der ausnahmsweise sogar alle vier Bandmitglieder als Komponisten genannt werden, als wolle man den erneuerten Zusammenhalt unterstreichen, singt Carl Barat: „Woke up again to my evil twin / The mirror is fucking ugly / and I’m tired of looking at him“ – und natürlich lässt sich das nicht nur auf das Spiegebild beziehen, sondern auch auf seine Hassliebe zu Pete Doherty. Der Song kombiniert dabei eine Reggae-Strophe mit einem hymnischen Refrain, an dessen Ende sie sich sogar zu einem „Lalala“ hinreißen lassen.
Fame And Fortune, mit einem Gitarrenriff, das seltsam unfertig und zugleich markant klingt, zelebriert noch einmal den Kiez in Camden, den sie noch immer am liebsten in ihre persönliche Version von Albion verwandeln möchten. Iceman klingt wacklig wie ein erster Gehversuch, die Quasi-Klavierballade You’re My Waterloo mit Carl am Piano funktioniert vor allem dank dieser wunderbar lädierten Stimme von Pete Doherty.
Das Gefühl, das sich beim Hören von Anthems For Doomed Youth einstellt, ist dank dieser guten Songs nicht Fremdschämen, sondern zuerst Erleichterung und dann Dankbarkeit. “It might represent a new start or a full stop”, hat der Guardian festgestellt und treffend geurteilt. “either way, it’s a huge improvement on the way the Libertines’ story seemed fated to end”.
Bei zwei Songs stellt sich sogar pures, berauschendes Glück ein: Heart Of The Matter ist gefährlich, spannend, aggressiv, einzigartig und ebenfalls mit einer Zeile versehen, die man gut auf die erstaunliche Noch-Existenz dieser Band beziehen kann: “With all the battering it’s taken / I’m surprised it’s still ticking.” Genauso wunderschön ist The Milkman’s Horse, das all die Grazie und Romantik und verschwörerische Schönheit vereint, zu der diese Band fähig ist.
Anthems For Doomed Youth ist nicht das Album, mit dem es die Libertines allen gezeigt haben. Es ist, anders als Up The Bracket, keine Platte, die in 20 Jahren noch in irgendwelchen Bestenlisten auftauchen wird. Sie liefert, anders als The Libertines beispielsweise mit Can’t Stand Me Now oder Music When The Lights Go Out, auch keine Songs, die auf ewig zu den Highlights im Repertoire dieser Band gehören und ein ähnliches Gefühl wie das eingangs erwähnte, euphorisierte „Jetzt“ evozieren werden. Aber ein durchwachsenes Album passt selbstverständlicher viel besser zu dieser Band als ein makelloses Werk.
Die Libertines lieben, verkörpern und besingen das Chaos. Sie sind seit ihrer Gründung eine Band von vier Typen, die Gedichte lallen und durchs Leben torkeln. Mit ihrem dritten Album haben sie sichergestellt, dass ihr Weg nicht in einem peinlichen Sturz in der Gosse endet. Anthems For Doomed Youth klingt vielmehr, als könnten sie nun auf ewig dem Sonnenuntergang entgegentorkeln.
In Thailand wieder vereint: Das Video zu Gunga Din.
https://www.youtube.com/watch?v=q5sSnRD56Bw