Künstler | Thomas Azier | |
Album | Rouge | |
Label | Polydor | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Berlin heißt der sechste Song auf dieser Platte. Es ist die Stadt, die dem Niederländer Thomas Azier zehn Jahre lang ein Zuhause war. Es ist die Stadt, die viele Kritiker in seinem Debütalbum Hylas (2014) erkennen konnten. Und es ist die Stadt, der er nun den Rücken gekehrt hat, um seine Zelte in Paris aufzuschlagen. Der Ortswechsel hat damit zu tun, dass Hylas in Frankreich besonders gut ankam, aber auch damit, dass Azier sich in Berlin stets ein wenig isoliert fühlte. Rouge ist deshalb nicht nur geografisch das nächste Kapitel seiner künstlerischen Biografie.
Die zehn Tracks, die mit Produzent Dan Levy in einem Schloss in der Normandie aufgenommen wurden, sind deutlich weniger elektronisch als der Sound auf Hylas. Thomas Azier möchte weniger Distanz zum Ausdruck bringen, dafür mehr Unmittelbarkeit. „Ich habe viel Zeit damit verbracht, nachzudenken. Aber um zu schreiben, muss man leben. Man muss ausgehen und Spaß haben“, hat der 29-Jährige erkannt. Berlin zeigt das besonders deutlich: Nicht nur wegen der prominenten E-Gitarre ist das Stück nahe an Rock-Ästhetik – das könnte man sich durchaus von den Killers vorstellen. „Gutes Songwriting ist zeitlos und ich wollte, dass sich hier alles um die Songs dreht“, begründet der Niederländer die neue stilistische Freiheit und das Bekenntnis zu organischen Sounds. Das Problem von Rouge ist: Es gibt kein gutes Songwriting.
Die Single Talk To Me ist ein gutes Beispiel für das, was auf dieser Platte schief läuft. „Tell me what is fake and what is real“, singt Azier. Man könnte das als ultimative Fokussierung auf den emotionalen Kern eines Konflikts interpretieren („Ich möchte nichts umständlich machen, um klug daherzukommen. Alles muss so einfach wie möglich sein“, sagt Azier passenderweise dazu). Aber es ist letztlich nur eine von sehr vielen sehr plumpen Zeilen auf diesem Album. Talk To Me vereint die ungesunde Mischung aus Offenherzigkeit, die wie Naivität wirkt, und dem Hang zu verfrickelten Details, die auch nicht davon ablenken können, dass man hier ein recht kitschiges Liedchen vor sich hat, das auch zu Erasure oder Owl City passen würde.
Die blumigen Texte, durchweg in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Isa Azier entstanden, sind das größte Problem von Rouge, aber bei weitem nicht das einzige. In Winners zeigt sich Thomas Azier als Sensibelchen, das bloß nicht gemerkt hat, dass seine Sensibilität gar nichts Besonderes ist (und seine Lieder auch nicht). Crucify hat sich offensichtlich nicht nur beim Songtitel, sondern auch in seinem Hang zu Pomp und Camp von Army Of Lovers inspirieren lassen; man muss schon Musicals (oder besser noch: Operetten) mögen, um das gut finden zu können. Call könnte man zur medizinischen Behandlung von Testosteron-Überschuss einsetzen. Concubine will sehr offensichtlich Kunst sein, und gibt als Opener den ersten Vorgeschmack auf die gewöhnungsbedürftige Kopfstimme von Thomas Azier. „Ich habe keine Angst davor, mich auf extreme Weise auszudrücken. (…) Manchmal gehe ich mit meiner Stimme bis an die Schmerzgrenze, denn schließlich denke ich nicht an Gesangstechnik, sondern nur an das Gefühl. Eigentlich denke ich gar nicht!“, sagt er, offensichtlich ohne die in diesem Zitat liegende Komik zu erkennen.
Lichtblicke sind rar, und ein vollends gelungener Song findet sich auf dieser Platte überhaupt nicht. In Gold ist immerhin der Refrain gut, auch weil Azier endlich einmal aus der auf Dauer sehr schwer erträglichen Attitüde des Rührmichtnichtan ausbricht und stattdessen Kraft und Selbstbewusstsein zeigt. Auch Starling (schon wieder: die Wortschöpfung ist nicht halb so originell wie er meint) wird etwas zupackender und, wenn man den Text ignoriert, halbwegs okay. Das reduzierte Sandglass ist nicht ganz misslungen, aber zu lang, sodass es dann doch wieder penetrant und langweilig wird.
Dass hier natürlich auch noch ein großes künstlerisches Konzept dahinter stecken soll, überrascht kaum noch. Der Albumtitel bezieht sich auf die Formulierung „le fil rouge“, also den roten Faden, erklärt Thomas Azier: „Ich bin geradezu besessen von Alben mit einem roten Faden, und ich bin noch faszinierter von dem Umstand, dass mehr als nur ein Faden in einem Werk verwoben sein kann.“ Dass man sich dabei auch verheddern kann, hat er offensichtlich übersehen, wie spätestens der Album-Schlusspunkt Babylon beweist. Das Stück ist weinerlich, affektiert und hohl – mit dem letzten Lied beschwört er dann also auch die drei Worte herauf, die noch gefehlt haben zur vollständigen Beschreibung dieser Platte.
Der Künstler singt das am wenigsten schlechte Lied der Platte in hässlichen Outfits – so heißt das Konzept zum Video von Gold.
https://www.youtube.com/watch?v=gYAbiNKlfEg