Künstler | Tocotronic | |
Album | Das Rote Album | |
Label | Vertigo | |
Erscheinungsjahr | 2015 | |
Bewertung |
Zunächst ist alles wie immer. Ein dämlich blasierter Albumtitel. Schon vorab Lobeshymnen von den üblichen Verdächtigen (als „Einserschüler des Pop“ preist Moritz von Uslar die Band bei Zeit Online). Ein begleitender Bildband namens Die Tocotronic Chroniken, mehr als zwei Kilo schwer. Ein Pressetext, der es fertig bringt, nicht von der Band selbst zu stammen (sondern aus der Feder von Kristof Schreuf) und trotzdem nach ekelhafter Selbstbeweihräucherung zu klingen. Und ein Opener, der Prolog heißt (unter Griechisch machen es Tocotronic wohl nicht mehr) und mit knapp 30 Sekunden vollkommen überflüssiger Gitarrenmeditation beginnt. Genau das konnte man erwarten von einer Band, die seit Jahren mit dem Kopf in ihrem eigenen Arsch steckt.
Doch dann passiert etwas. Es gibt in diesem Prolog einen gewitzten Beat und einen tollen Bass als Fundament für einen vergleichsweise straighten Song. Das lässt dann doch aufhören. Und als das folgende Ich öffne mich nicht nur eine große Geste und einen großen Sound bietet, sondern wirklich auch einen großen Song (inklusive einer Kalimba-Melodie, die an I Follow Rivers von Lykke Li (!) denken lässt), da fragt man sich plötzlich: Geht da wieder was?
Die Antwort lautet ganz eindeutig: ja. Tocotronic klingen auf dem Roten Album, als habe ihnen jemand einen Tritt in den Hintern verpasst, kombiniert mit dem Hinweis: Es gibt eine Welt da draußen! Es gibt Spaß! Leichtigkeit! Die Sache mit Ich öffne mich darf man sehr wörtlich nehmen. „Ihr habt meine Solidarität“, singt Dirk von Lotzow vier Lieder später sogar, als Botschaft an alle Außenseiter der Welt, untermalt von einem himmlischen Streicher-Arrangement (Tocotronic wollen bestimmt, dass jetzt jemand Eleanor Rigby schreibt, aber den Gefallen tue ich ihnen dann doch nicht).
Chaos ist ein schöner Soundtrack für eine Überlandfahrt und will womöglich genau das sein. Sie irren hat eine schicke Johnny-Marr-Gitarre und eine erstaunliche Dringlichkeit. Haft dürfte jeden Festivalnachmittag der Welt ein kleines bisschen schöner machen. Die Erwachsenen erweist sich als Riesenhit – niemals hätte man gedacht, dass es mal etwas geben könnte, das so nah an eine deutsche Entsprechung von Pulp kommt, und das auch noch von Tocotronic.
Zwischendurch muss man ins Booklet gucken, um ganz sicher zu gehen, dass das wirklich dieselbe Band ist, in derselben Besetzung, sogar mit demselben Produzenten (Moses Schneider) wie bei den jüngsten Werken. Alles trifft zu, und doch sind Tocotronic wie verwandelt. Noch immer schaffen sie es, Wörter in ihre Songtexte einzubauen, die bei jeder anderen Band vollkommen Songtext-untauglich wären. Diesmal gehören dazu, in alphabetischer Reihenfolge: Diplomarbeit, Empfindlichkeit, Litanei, Schalentiere, Sexualität, Spießbürger, Treueherzen, Wäschespinne. Aber die Stimme, die solche Wörter intoniert, ist nicht mehr ganz so selbstverliebt, und die Texte, die rund um diese Wörter entstehen, sind nicht mehr ganz so verklausuliert.
Jungfernfahrt ist zwar ein Rückfall in alte Zeiten (es soll wohl eine Hymne auf die Kindheitstage sein, ist aber bloß aufgeblasen und langweilig), dafür gibt es mit Diese Nacht eine ganz zurückhaltende, ganz zauberhafte Ballade und mit Zucker sogar einen Song, der die unfassbare Frage aufwirft: Handelt dieser Text wirklich von Erektionsproblemen? Das wäre ja Humor!
Man kann das nicht ganz ausschließen, denn ihre eigene Vergangenheit betrachten Tocotronic jetzt offensichtlich als Spielwiese, nicht mehr als Ballast. Am Ende von Rebel Boy lässt Dirk von Lotzow seine Stimme ausklingen wie eine verglühende Tabakreklame, und es fühlt sich wohl nicht nur für ihn wie ein Genuss an, sondern auch für den Hörer. Spiralen, das auch wunderbar aufs neue Album von Blur passen würde, zitiert kurz die (damals schon ironische) Fanfare von Let There Be Rock.
Schließlich bietet Das Rote Album noch einen Hidden Track. Untermalt von Vogelgezwitscher und akustischer Gitarre berichtet Lotzow da von einem Spaziergang mit sich selbst. Aber das klingt (trotz einer Anspielung auf Paul Celan, die sich auch noch hineinschleicht) kein bisschen affektiert, sondern so wie das gesamte Album: nach einem neuen Blick auf die eigenen Möglichkeiten.