Künstler | Wild Beasts | |
Album | Boy King | |
Label | Domino | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung |
„Ich denke, Boy King ist eine apokalyptische Scheibe. Sie handelt davon, wie wir am Abgrund treiben. Wenn du über Sex nachdenkst, musst du auch über den Tod nachdenken, sie sind ein und dasselbe“, sagt Hayden Thorpe, einer der beiden Sänger der Wild Beasts. Er hat das übermorgen erscheinende fünfte Album seiner Band damit gut umschrieben. Aber zum Glück klingt das Quartett aus England nicht halb so betrüblich, wie man angesichts dieser Aussage vermuten könnte. Songs wie Alpha Male wehren sich kein bisschen gegen die Bezeichnung „Tanzmusik“, ein Lied wie He The Colossus beweist, dass Wild Beasts auch auf Boy King kraftvoll, modern und mit ganz eigener Ästhetik agieren.
Nach dem stark elektronisch geprägten Vorgänger Present Tense (2014) gibt es auch diesmal recht wenige Gitarren, ein prägendes Element ist das Instrument von Ben Little dennoch. „Es wurde deutlich, dass die Gitarre innerhalb der Songs zu einem eigenen Charakter wurde, einer phallischen Gestalt, dem alles erobernden Männlichen“, sagt Hayden Thorpe. „Ich lebe hier meinen inneren Byron komplett aus. Ich dachte, ich hätte diese dunkle, düstere Seite an mir gut versteckt, aber sie brach sich wieder mit Vehemenz ihre Bahn, wie der Unglaubliche Hulk.“
Dieses Reflektieren über tief in uns wurzelnde Schatten und Dämonen und das Benennen mythischer Figuren, in denen sie Gestalt annehmen, lässt sich auf Boy King immer wieder beobachten. In 2BU klingt Tom Fleming, der andere Sänger, wie ein betrübter und liebeskranker Kaiser Nero. Wenn Oscar Wilde im Gefängnis nicht Briefe geschrieben hätte, sondern Popsongs, wäre vielleicht ein Werk wie Eat Your Heart Out Adonis entstanden. Erniedrigung ist ein wichtiges Thema dieses Albums, ebenso wie Gelüste, die nicht befriedigt werden, oder deren verbotene Erfüllung man sich ohne Rücksicht auf Verluste nehmen muss.
Marie Antoinette wird in Get My Bang zitiert, die Musik dazu hätte auch gut auf die jüngeren Platten von Bloc Party gepasst. So stoisch der Beat sich zeigt, so fokussiert ist hier der Geist, und zwar auf das Eine: „Not getting it right, not getting it wrong, just getting it on.“ Wer glaubt, dass damit Sex gemeint ist, liegt (ausnahmsweise) falsch. Wild Beasts haben stattdessen den Black Friday zum Anlass genommen, sich mit verschwenderischem Konsum als Ersatz für einen Lebensinhalt zu beschäftigen: „Der Song handelt von den horrenden Strecken, die man hinter sich bringen muss, um in der heutigen Gesellschaft, in der man seinen düster-romantischen Charakter nicht ausleben kann, Befriedigung zu erlangen. Deswegen gehen wir dann einkaufen und streiten uns über das Fernsehprogramm. So befriedigen wir unser ‚Es‘, jenen von Freud definierten ursprünglichen Lusttrieb – so bekommen die Leute ihren Orgasmus“, erklärt Thorpe.
Big Cat weist als Auftakt gleich den Weg zur schwülen Atmosphäre, die das Album prägt und von Thorpes Falsettstimme noch verstärkt wird. In Tough Guy klingt er beinahe wie Anthony Hegarty oder Jimmy Somerville, während der rabiate Sound inklusive Quasi-Metal-Gitarrensolo deutlich macht, was Wild Beasts meinten, als sie als Vorgabe für dieses Album einen Mix aus Justin Timberlake und Nine Inch Nails ausgegeben haben. Noch ein Ziel verfolgte die Band, wie Hayden Thorpe ausführt: „Nach fünf Alben musste es einfach ein Zur-Hölle-mit-Allem-Element geben.“ Deshalb hat das Quartett die eigenen Methoden komplett umgekrempelt: „Das Einzige, was du machen kannst, wenn du an diesem Punkt angelangt bist, ist, das Steuer herumzureißen und volles Risiko zu gehen. Dann kannst du all das machen, von dem du gesagt hast, du würdest das nie tun.“
Wie geschickt sie diesen Ansatz zur eigenen Weiterentwicklung genutzt haben, beweist Boy King in vielen Momenten. Am besten funktioniert der neue Sound in Ponytail, das einen schlüpfrigen Bass mit einem Beat vereint, der nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig lässt. „I wanted you to love me / I wanted you to trust me“, heißt das erstaunlich romantische Bekenntnis dazu. Der in Celestial Creatures besungene Himmel sieht wahrscheinlich aus wie das Video zu Sweet Harmony von The Beloved. Und mit Dreamliner gibt es als Schlusspunkt wieder eine sehr schöne Ballade. Der Gesang ist darin so sehr im eigenen Gefühl gefangen, dass er bis zum ersten Refrain kaum als Englisch zu erkennen ist. „Das ist der Punkt, an dem der innere Byron seine eigene Verwundbarkeit realisiert und wieder zu einem kleinen Jungen wird“, erklärt Thorpe.
Er hat Boy King als „eine menschliche Platte“ charakterisiert, „sie ist ein wenig schluderig, ein wenig störanfällig und ein wenig ungepflegt. Genau das ist für mich so herzerfrischend – wir haben zugelassen, dass auch Hässlichkeit zum Vorschein kommt.“ Auch das trifft zu, und Wild Beasts haben es damit tatsächlich geschafft, schon wieder eine intelligente Platte über Sex zu machen, die den Hörer so zurücklässt, wie das wohl sein soll: befriedigt, aber mit Lust auf noch mehr.
Komplett bekleidet: das Video zu Get My Bang.