Künstler | Xiu Xiu |
Album | Angel Guts: Red Classroom |
Label | Bella Union |
Erscheinungsjahr | 2014 |
Bewertung |
Ein Park, ein See, ein paar Kinder. So stellt man sich normalerweise eine schöne Wohngegend vor. Als Jamie Stewart, der Mann hinter Xiu Xiu, nach vier Jahren in North Carolina unlängst wieder nach Los Angeles zurückkehrte, landete er in einem Viertel, in dem es einen Park, einen See und ein paar Kinder gibt. Allerdings: Der Park ist das Schlachtfeld, auf dem vier Gangs ihre Revierkämpfe ausfechten. Den See muss die Polizei regelmäßig nach Leichen absuchen. Und die Kinder bestanden aus sterblichen Überresten, die nach Wochen in einem Haus gefunden wurden unweit von dem, in dem Jamie Stewart eingezogen war.
Kein Wunder also, dass Angel Guts: Red Classroom, das neunte Studioalbum von Xiu Xiu und benannt nach einem gleichnamigen japanischen Erotikfilm aus dem Jahr 1979, düster geworden ist. Sogar für Xiu-Xiu-Verhältnisse. Die Themen behandeln beispielsweise Rassismus, der in Form von Sex ausgelebt wird, Zweifach-Selbstmord, Kriminalität und immer wieder die Angst vor Gewalt. Die finstersten Seiten der Stadt der Engel, die Jamie Stewart nach seiner Rückkehr aus unmittelbarer Nähe beobachtet hat, haben deutliche Spuren hinterlassen. “I know to a degree I must have romanticized it”, sagt Stewart über die Erfahrungen in seiner neuen Nachbarschaft, “but when it’s not safe to go out at night, what else can one do?“
Nunja: Man kann zum Beispiel Lieder schreiben, in denen jemand „Killer! Killer! Killer!“ schreit zu einer Musik, die wie Techno aus einem stalinistischen Folterkeller klingt (Lawrence Liquors). Oder einen Track machen, der mit Glockengeläut beginnt und dann die Stimme eines Wahnsinnigen bietet, der befürchtet: „It might be the last time we ever feel love“ (El Naco). Oder einen Song wie Cynthia’s Unisex hinbekommen, der zugleich wie ein Inferno klingt und doch so kalt wie das Herz von Heinrich Himmler.
Die Beispiele zeigen schon: Xiu Xiu sind auch hier wieder das Gegenteil von normaler Musik. Man kann diese Songs nicht nebenbei hören, nicht als Begleiter für die passende Lebenssituation und erst recht nicht zur Erbauung. Immer wieder singt Stewart wie in Archie’s Fades mit einer Stimme wie ein Seher, der vor einem sehr, sehr schweren Unglück warnt, und immer wieder thematisiert er die Aspekte des Lebens, die quasi alle anderen Musiker ausblenden. Die Single Stupid In The Dark hat, wie einige Tracks auf Angel Guts: Red Classroom, einen Beat zu bieten, der an ein Maschinengewehr erinnert; rundherum passiert ganz viel, aber nichts, was auch nur in die Nähe von Harmonie rücken würde.
In New Life Immigration erklingt etwas, das wie ein Schrei in Todesangst klingt. Adult Friends wirkt, passend zum Thema, nervös, erregt, geil – und unbefriedigt. Beinahe fröhliche Percussions hat Black Dick zu bieten, trotzdem bleibt die Atmosphäre bedrohlich bis klaustrophobisch. Auch Bitter Lemon mit seinem Latin-Rhythmus legt erst eine falsche Fährte und erweist sich dann als der perfekte Soundtrack zu David Bowie im kalten Entzug. In Botanica De Los Angeles zählt Stewart zu einem mächtigen Beat lauter Dinge auf, die tot sind, im Album-Schlusspunkt Red Classroom tobt sich anscheinend ein Zwitter aus Bohrmaschine und Kettensäge aus.
Diese Soundpalette ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Stewart mit Bandkollegin Angela Seo ausschließlich analoge Synthesizer, ein Schlagzeug und Drumcomputer aus den 1970er Jahren benutzt hat. In The Silver Platter scheint einer dieser Synthesizer in Ketten zu liegen und sich halbherzig befreien zu wollen, dazu kommt ein Geräusch aus einer Fabrik, in die garantiert kein Arbeiter freiwillig seinen Fuß setzen würde. Auch A Knife In The Sun verströmt Industrial-Feeling (und wartet zusätzlich mit ein paar bestialischen Schreien auf). Wenn William Foster, der Held in Falling Down, im Moment seiner maximalen Eskalation noch Musik gemacht hätte, wäre vielleicht so etwas dabei heraus gekommen.
Angel Guts: Red Classroom beweist wie schon der Vorgänger Always: Xiu Xiu sind einzigartig, eine eigene Welt. Man muss ihnen auch nach dieser Platte ein Kompliment machen, das verdammt selten geworden und für eine Band mit bereits acht Alben im Gepäck erst recht als besondere Auszeichnung zu verstehen ist: Ihre Musik ist eine Herausforderung, ein Abgrund – und ein Erlebnis.
Es gibt noch keine Videos zum neuen Album. Deshalb eine Szene aus dem Film Angel Guts: Red Classroom.
httpv://www.youtube.com/watch?v=K-tCSdVJhSQ