„Chimes Of Freedom“

Künstler Diverse

Satte 80 neue Dylan-Coverversionen versammelt "Chimes Of Freedom".
Satte 80 neue Dylan-Coverversionen versammelt „Chimes Of Freedom“.
Album Chimes Of Freedom. The Songs Of Bob Dylan Honouring 50 Years Of Amnesty International
Label Universal
Erscheinungsjahr 2012
Bewertung

Musik und Menschenrechte? Das scheint in diesen Tagen nicht viel miteinander zu tun zu haben. Auf dem Tahrir-Platz wurde nicht gesungen, als vor einem Jahr die Ägypter Hosni Mubarak davon jagten. In der Ukraine zieht man sich lieber aus, um gegen Korruption und Diskriminierung zu protestieren, als zur Gitarre zu greifen. Und sucht man im Internet, dem Hauptquartier des Aufstands gegen die Macht der Finanzmärkte, nach „Hymne der Occupy-Bewegung”, dann spuckt Google gerade einmal 199 Treffer aus.

Und die sind dann beispielsweise Occupy L.A. von NOFX (7000 Aufrufe bei YouTube), die Ukulele Anthem von Amanda Palmer (19.000), Black Flag von Atari Teenage Riot (25.000) oder ein Lied namens Vor den Kathedralen von einem gewissen Falkenberg, das es gar nicht bei YouTube gibt. Nicht gerade Abrufzahlen, bei denen man von einer Massenbewegung sprechen kann. Am ehesten kann den Titel von der „Hymne der Occupy-Bewegung“ vielleicht noch Peter Lichts Lied vom Ende des Kapitalismus für sich beanspruchen (228.000 YouTube-Aufrufe) – aber der Song ist aus dem Jahr 2006, und entstand damit zwei Jahre vor dem Ausbruch der Finanzkrise. Jemand, der sich seitdem wirkungsvoll, massentauglich und aufrüttelnd mit dem Thema beschäftigt hat, ist nicht in Sicht.

Das ist durchaus erstaunlich. Schließlich war Musik „immer schon das Medium, durch das Werte, Meinungen und Vorurteile weltweit und auf relativ einfache Art vermittelt werden konnten“, sagte Ray Cokes 1994 ganz richtig im Spiegel. Er muss es wissen, schließlich war er damals der schlauste Mann auf MTV, und MTV war damals noch das unbestrittene Epizentrum des Pop.

Ein Blick in die Geschichte bestätigt ihn: Wann immer Menschen für ihre Rechte kämpften, da hatten sie ein Lied auf den Lippen, das einte, tröstete, Mut machte. Das bündisch Liedlein schweißte im Bauernkrieg zusammen, die Marseillaise wurde zum Triumphschrei der Französischen Revolution. Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’ war Ausdruck der Hoffnungen der Arbeiterbewegung.

Auch im Zeitalter des Pop ist diese Verbindung durchaus wirkungsmächtig. „Popkultur [ist] als politischer Kampf um Zeichen und Symbole auch in der Postmoderne ein Medium der Kritik und Reproduktion sozialer Ungleichheit“, stellt beispielsweise der Politikwissenschaftler Albert Scharenberg in seinem Aufsatz Der diskursive Aufstand der schwarzen „Unterklassen“. Hip Hop als Protest gegen materielle und symbolische Gewalt fest.

Am eindrucksvollsten war diese Kombination sicher in der Flower-Power-Bewegung. Wer diese Ära heute auf Schlaghosen, Kiffen und Gänseblümchen reduziert, unterschätzt den „Power“-Bestandteil fahrlässig. Die Lieder der Zeit haben tief in die Gesellschaft hinein gewirkt, sie haben die Art und Weise grundlegend verändert, wie wir in Familien, Beziehungen oder Politik miteinander umgehen. Nimmt man allein den Begriff „1968“, dann wird dabei alles zugleich gedacht: Krieg, Mode, Sex, Protest, Drogen, Musik – all das ist untrennbar miteinander verwoben.

Wohl niemand verdeutlicht das so gut wie Bob Dylan. „Seit den frühen sechziger Jahren hat Mr. Dylan aus Worten und Musik ein nahezu unendliches künstlerisches Universum geschaffen, das den gesamten Globus durchdrungen und wirklich die Weltgeschichte verändert hat“, brachte das – ohne eine Spur von Übertreibung – Literaturprofessor Gordon Ball auf den Punkt, als er 1996 Bob Dylan für den Literaturnobelpreis nominierte.

Es ist also eine naheliegende Wahl, den 50. Geburtstag von Amnesty International auch mit seinen Liedern zu feiern. Das internationale Wirken der 1961 gegründeten Menschrechtsorganisation begann fast zeitgleich mit der Plattenkarriere von Bob Dylan. Und es sind seine Lieder, mehr als die von irgendjemand anderem, die seitdem bewiesen haben, wie man mit Musik den Finger in die Wunden unserer Zeit legen kann.

Chimes Of Freedom versammelt zum Jubiläum von Amnesty International auf vier CDs Coverversionen von Bob-Dylan-Songs. Die Auswahl der Stücke überrascht allerdings zunächst. Einige von Dylans besten und eindringlichsten Protestliedern fehlen. Es wäre spannend gewesen, wie Hard Times In New York Town klingt, neuinterpretiert nach dem Kollaps der Wall Street. Talking World War III Blues hätte vor dem Hintergrund des Kräftemessens mit dem Iran auch reichlich Aktualität gehabt. Let Me Die In My Footsteps, Long Ago Far Away, Ain’t Gonna Grieve, Train A-Travellin, A Hard Rain’s A-Gonna Fall, Masters Of War oder Only A Pawn In Their Game bleiben ebenfalls unberücksichtigt.

Auch das Anliegen, einfach gute Coverversionen von Bob-Dylan-Stücken zu versammeln, ist nicht das Konzept von Chimes Of Freedom, denn es fehlen einige der Künstler, die große Hits mit Dylans Songs hatten, wie The Byrds, Peter Paul & Mary, Jimi Hendrix oder Guns’N’Roses. Das verwundert allerdings nicht mehr, wenn man weiß, dass hier nicht einfach bereits Vorhandenes neu zusammengestellt wurde. 70 der hier versammelten 80 Lieder wurden extra für Chimes Of Freedom aufgenommen, die restlichen 10 waren bisher unveröffentlicht. „This album is a powerful fusion of the music community’s respect for Amnesty’s life-affirming work and for Bob Dylan’s enduring brilliance“, sagen Jeff Ayeroff und Julie Yannatta, die als ausführende Produzenten für den Sampler fungieren, nicht ohne Stolz.

In der Tat wird auf Chimes Of Freedom eine ganze Menge geboten. Die vier CDs versammeln große Namen (Sting, Mark Knopfler, Bryan Ferry, Lenny Kravitz, Elvis Costello, The Gaslight Anthem, Patti Smith), Wegbegleiter von Bob Dylan (Johnny Cash, Joan Baez, Pete Seeger) und spannende Newcomer (Freelance Whales, Cage The Elephant).

Fast alle Coverversionen gehen äußerst respektvoll mit den Vorlagen um, trotzdem bietet Chimes Of Freedom eine enorme stilistische Bandbreite. Mariachi El Bronx zeigen mit Love Sick, dass man auch in Mexiko Liebeskummer haben kann – und dass Tequila offensichtlich auch kein wirksames Gegenmittel ist. Ziggy Marley beweist, dass Blowin’ In The Wind auch als Reggae funktioniert. Betty LaVette verwandelt Most Of The Time in einen Soul-Schmachtfetzen. K’Naan schafft es, aus With God On Our Side einen HipHop-Track zu machen, ohne das Original zu meucheln. Evan Rachel Wood entwickelt I’d Have You Anytime in Richtung Jazz. Und Flogging Molly legen den Verdacht nahe, dass The Times They Are A-Changin’ wohl in einer irischen Hafenkneipe komponiert wurde.

Freilich gelingt, trotz des guten Willens und des guten Zwecks, nicht alles. Die
Dave Matthews Band veranstaltet ein All Along The Watchtower-Massaker. Die Silversun Pickups nehmen Not Dark Yet jegliche Dynamik. Bad Religion knüppeln It’s All Over Now, Baby Blue nieder. Ke$ha übernimmt sich deutlich mit einer Beinahe-acappella-Version von Don’t Think Twice, It’s All Right – im Dreikampf der Pop-Püppchen landet sie damit abgeschlagen hinter Natasha Bedingfield, die Ring Them Bells immerhin passabel meistert, und Miley Cyrus, deren Name wohl nicht mehr allzu oft in einem Atemzug mit Bob Dylan genannt werden dürfte, die You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go aber sehr achtbar interpretiert.

Dem stehen freilich viele Höhepunkte gegenüber. Blind Willie McTell klingt in der Version der Nightwatchman so düster, kaputt und morbid, dass er sicher ein guter Freund von Nick Cave werden könnte. Diana Krall macht Simple Twist Of Fate noch ein Stück verlorener und zärtlicher, Brett Dennen versieht You Ain’t Going Nowhere mit einer famosen Lässigkeit. My Chemical Romance schaffen es, aus Desolation Row so etwas wie Stadionrock zu machen. Adele singt Make You Feel My Love zum Heulen schön, und die Arroganz der Dylan-Version von It Ain’t Me Babe ersetzen Band Of Skulls mit echter, inniger Reue – das Highlight unter diesen 80 Liedern.

Vor allem zeigt die Auswahl gerade dadurch, dass sie sich nicht auf explizit Politisches beschränkt, die Intelligenz, Bedeutung und Aktualität in Bob Dylans Stücken. Ob die Verbrechen des Krieges oder die Brutalität der Liebe – die Lieder auf Chimes Of Freedom betrachten all das mit einem klaren, unbarmherzigen, durch und durch philantropischen Blick. Man kann der Feststellung von Historiker Sean Wilentz in den Liner Notes nur zustimmen: „Over the half century, Dylan’s art has explored and expressed the anguish and hope of the modern human condition.”

Miley Cyrus covert Bob Dylan! Und im Falle von You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go sogar so passabel, dass man nicht gleich nach Amnesty rufen muss:

httpv://www.youtube.com/watch?v=I2wvaWTTmz8

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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