Künstler | Coldplay | |
Album | Viva La Vida Or Death And All His Friends | |
Label | Capitol | |
Erscheinungsjahr | 2008 | |
Bewertung |
Irgendjemand sollte endlich ein U2-O-Meter erfinden. Das wäre ein wirklich praktisches Gerät. Es würde bei einem Übermaß an Prätention immer umgehend Warnsignale von sich geben. Und keine Frage: Bei Viva La Vida Or Death And All His Friends würde diese Maschine ganz laut Alarm schlagen. Man kann diese CD schon hassen, bevor man sie überhaupt eingelegt hat.
Da ist zunächst der überkandidelte Albumtitel, der – natürlich – auf ein Konzeptalbum schließen lässt. Da ist die Tatsache, dass Coldplay einige Sounds in Kirchen aufgenommen haben. Da ist das Cover, basierend auf Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix, einem der symbolträchtigsten Gemälde der Neuzeit. Da ist die Tatsache, dass gleich drei der zehn Lieder die 6-Minuten-Marke überschreiten. Da ist Produzent Brian Eno, der tatsächlich verlangt haben soll, dass jeder Song auf Viva La Vida anders klingt. Da sind die bekannt schlichten Texte von Chris Martin, der diesmal Zeilen wie „Those who are dead / are not dead / they’re just living in my head“ hervorbringt.
Und da ist die nicht ganz unbedeutende Tatsache, dass das vierte Coldplay-Album bei Erscheinen im Juni 2008 die nicht eben einfache Aufgabe hatte, die strauchelnde Plattenfirma Emi vor dem Bankrott zu retten (was dann dank eines Grammys, Platz 1 in 32 Ländern und insgesamt mehr als acht Millionen verkauften Exemplaren zumindest vorübergehend auch gelang).
Freilich muss man Coldplay zweierlei zugute halten: Für einige dieser Punkte können sie nichts. Und die anderen erwachsen aus der Tatsache, dass sie einen recht ungewöhnlichen Ausweg aus ihrem Image-Problem gesucht haben. Seit sie eine der erfolgreichsten Rockbands der Welt geworden ist, unterstellt man der Band um Sänger Chris Martin gerne, dass sie sich für Radiohead hält, während sie in Wirklichkeit nicht einmal U2 das Wasser reichen kann. Doch schon mit dem exquisiten Vorgänger X&Y haben Coldplay bewiesen, dass sie diese Kritik nicht mehr allzu sehr anficht. Coldplay wollen nicht cool sein, sondern Künstler.
Viva La Vida strotzt deshalb vor Ehrgeiz, Experimentiergeist und Ernsthaftigkeit. Schon der instrumentale Opener Life In Technicolour fährt eine chinesische Yangqin und Tablas auf, dazu kommt ein Piano-Riff, das hier noch von einer Wall Of Sound kaschiert wird, später dann als Single (als Life In Technicolour II, dann auch mit Gesang) voll zur Geltung kommen sollte.
Cemeteries Of London setzt ebenfalls auf komplexe Rhythmik, mit Bongos und fast disharmonischen Tönen aus dem Bass. Dann schafft es Lost!, einen HipHop-Beat mit einer Kirchenorgel zu verschmelzen. Der Song klingt riesengroß, nach Stadion und Kathedrale – er schreit fast nach einem Kinderchor (oder Bono), der dann aber Gott sei Dank nicht kommt.
Der erste Song, der so etwas wie den vertrauten Coldplay-Sound bietet, ist 42. Doch nach knapp 100 Sekunden mit Klavier, Streichern und Gesang wandelt sich das Lied zu etwas, das an Joy Division in ihren düstersten Momenten denken lässt, und sich dann nach einer weiteren Minute prompt in eine Passage verwandelt, die New Order in ihrer optimistischsten Phase auch nicht besser hingekriegt hätten.
Das wunderbare Lovers In Japan hat eine heitere Energie, die man kaum für möglich halten sollte bei einer Band, die sich so viel aufgebürdet hat. Dann folgt nahtlos Reign Of Love – eine Skizze, die noch einmal darin erinnert, dass es nur wenige Leute gibt, von denen man sich lieber in den Schlaf singen lassen möchte als Chris Martin.
Auch Yes ist eigentlich ein zweigeteilter Song. Doch hier ist Chris Martins Stimme kaum wiederzuerkennen. Denn so tief wie bei Yes hat er noch nie gesungen. Dazu gibt es arabische Klänge und ein paar Anspielungen (in Text und Sound) auf Daylight vom zweiten Album A Rush Of Blood To The Head. Es schließt sich so etwas an wie Stadion-Shoegaze. Chinese Sleep Chant nennen Coldplay diesen Hidden Song, der ein vergleichsweise straightes Rock-Korsett mit Heliumgesang kombiniert und am ehesten ans Coldplay-Debüt Parachutes denken lässt.
Der Titelsong ist dann das beste Stück des Albums, Disco und Gospel, Weihnachtslied und Fußballhymne in einem. Seit The Verve mit Bittersweet Symphony hat es keine Rockband mehr geschafft, einen Song so gekonnt, packend und erhebend um ein Streicher-Riff aufzubauen.
Violet Hill funktioniert ähnlich wie Lovers In Japan: Zuerst gibt es ein bisschen Standard-Coldplay, doch damit wird der Hörer nur in die Irre geführt, um dann mit einer knüppelharten Gitarre überrascht zu werden und mit einem Beat, der auf einer römischen Galeere auch nicht unbarmherziger klingen könnte.
Der Rausschmeißer Death And All His Friends muss (und will) dann wohl „ein Gesamtkunstwerk“ genannt werden. Der letzte Song steht prototypisch für das gesamte Album: ein bisschen überambitioniert, aber mit vielen betörenden Momenten.
Coldplay zeigen mit Viva La Vida, dass sie nach wie vor wild entschlossen sind, das Kuschelrock-Etikett abzustreifen – und dass sie es dabei trotzdem schaffen können, ein Massenpublikum mitzunehmen. Sie setzen auf das, was bei Coldplay grandios funktioniert: Chris Martins Stimme, große Gesten, eine satte Dosis Empathie. Und sie versuchen immer wieder, dieses Konzept selbst zu dekonstruieren. Im Prinzip haben Coldplay auf Viva La Vida ihre eigenen Remixe veröffentlicht.
Das Ergebnis ist beeindruckend, auch wenn es gelegentlich einen faden Beigeschmack hat. Denn wegen des Willens zur Erneuerung, zum Absonderlichen und Gewagten kommen mitunter Songs heraus, die ihr melodiöses oder emotionales Potenzial nicht ausschöpfen. An mancher Stelle wünscht man sich, Coldplay könnten einfach einmal zufrieden damit sein, Coldplay zu sein. Doch da ist wohl das U2-O-Meter im Weg.
Wem die Stunde schlägt: Im Video zu Viva La Vida tobt die Revolution:
httpv://www.youtube.com/watch?v=IgERaBJCHfc
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