Hurts – „Exile“

Künstler Hurts

Aus dem Schmerz geboren, diesmal mit Gitarren: "Exile" von Hurts.
Aus dem Schmerz geboren, diesmal mit Gitarren: „Exile“ von Hurts.
Album Exile
Label Sony
Erscheinungsjahr 2013
Bewertung

Die Aufnahmen zu Exile waren ein einziges Chaos. Jede Menge Promis und Groupies gingen am Ort des Geschehens ein und aus. Es gab Party nonstop und so viele Drogen, dass kein Mensch mitbekam, als die Dealer einfach ein paar Instrumente einsackten als Ersatz für die schon länger ausstehende Bezahlung. Es sei eine Mischung aus dem Führerbunker, Dantes Inferno und Schloss Versailles gewesen, sagte einer aus der Band danach.

So zumindest war es im Jahr 1971 bei Exile On Main St. (von Fans einfach „Exile“ genannt), dem zehnten Album der Rolling Stones, aufgenommen in einem Schloss in Frankreich und eines der legendärsten Alben der Rockgeschichte. Zu Exile, dem gerade erschienenen zweiten Album von Hurts, gibt es allerdings einige erstaunliche Parallelen – auch über den Titel hinaus.

Parallele 1: Wie die Rolling Stones damals (sie machten sich aus dem Staub, bevor das Finanzamt in England ihre Steuerschulden eintreiben konnte), waren auch Hurts in gewisser Weise auf der Flucht. Es galt, Abstand zum Trubel zu gewinnen, der in den vergangenen 18 Monaten um sie herum geherrscht hatte, als sie es von Nobodies zu umschwärmten Popstars gebracht hatten. 250.000 Menschen kamen zu ihren Konzerten, ihr Debütalbum Happiness verkaufte sich mehr als zwei Millionen Mal – mit einem so rasanten Aufstieg kamen Theo Hutchcraft und Adam Anderson nur schwer klar. „Wir waren auf dem besten Weg, den Verstand zu verlieren“, sagt Theo über die letzten Konzerte und die Zeit, bevor die Aufnahmen zu Exile begannen. „In Kiew bin ich während der Show eingeschlafen“, ergänzt Adam Anderson und gesteht zudem, er habe sich „die ganze Zeit mit Alkohol zugeschüttet“.

Parallele 2: Auch Hurts setzten für die Entstehung von Exile darauf, dass möglichst intensives Zusammensein über einen möglichst langen Zeitraum die besten Ergebnisse bringen würde. Sie komponierten wieder in der Wohnung in Manchester, in der sie auch während der Entstehung des ersten Albums gewohnt hatten, damals noch als Arbeitslose, die bloß vom Popstar-Dasein träumen konnten. „Sechs Monate lang jeden Tag in einer Wohnung, sechs Tage die Woche. Das haben wir durchgezogen, bis wir kurz vor dem Wahnsinn standen. Anders können wir offenbar nicht arbeiten: Wir arbeiten, bis wir das Gefühl haben, den Verstand zu verlieren, weil wir dann sicher sein können, unser Bestes gegeben zu haben“, erklärt Theo Hutchcraft die Idee hinter dem Prinzip Isolation.

Parallele 3: Rock. Jawohl: Das ist nicht nur das Genre, das iTunes für dieses Album empfiehlt, sondern gleich mehrfach beinahe Realität. Exile ist ein gutes Stück entfernt von den Synthie-Klängen, die Happiness geprägt haben. Sex, Blut, Schmerz und der Teufel sind wichtige Themen auf dem zweiten Album von Hurts, E-Gitarren sind gleich mehrfach sehr präsent und wenn Hurts mit diesen Songs auf Tour gehen werden, dann passt ein Typ mit Jeans, Nietenarmband und Tattoos definitiv besser auf die Bühne als (wie zuletzt) eine Opernsängerin.

Happiness klang sehr kontrolliert und kalt, und dieses Mal wollten wir einen schmutzigeren, verschwommeneren und wilderen Sound“, sagt Theo Hutchcraft. Im Gegensatz zum Debüt, dessen Lieder auf dem Klavier geschrieben worden waren, haben Hurts diesmal mit der Gitarre komponiert. Sie hörten sich zur Inspiration sogar die Demos ihrer früheren Bands noch einmal an. Schon bei Bureau und Daggers hatten sie gemeinsam musiziert, beide Bands waren deutlich stärker gitarrengeprägt als Hurts, bei den Daggers war Theo Hutchcraft sogar noch mit Elvis-Tolle und Lederjacke unterwegs.

Die neue Richtung deutet sich schon im Titelsong am Beginn des Albums an. Exile ist kein Paukenschlag, sondern beginnt leise und entwickelt dann, vor allem durch den verzerrten Bass, eine klaustrophobische Atmosphäre. Eine Minute lang könnte man das für ein Lied des Black Rebel Motorcycle Club halten, dann kommen feine elektronische Momente und jede Menge Pathos dazu – am Ende ist Exile der beste Depeche-Mode-Song seit mindestens 20 Jahren, nur eben nicht von Depeche Mode.

Cupid setzt auf ein schweres Blues-Riff. The Road wird gespenstisch, bedrohlich und wild, mit verzerrten Gitarren und Industrial-Atmosphäre. Der Mann, der hier singt, geht mühelos als Psychopath durch.

Die stilistische Bandbreite ist aber auch jenseits der neuen Rocklust von Hurts größer geworden. Das sehr originelle Sandman, das vor allem auf einem gepfiffenen Riff und einem HipHop-Beat (und am Ende auf einem verfremdeten Kinderchor) basiert, könnte wunderbar zu Justin Timberlake passen. Elton John spielt das Klavier im zauberhaften Rausschmeißer Help, der Art von dramatischer Monsterballade, nach der sich Robbie Williams mittlerweile die Finger lecken dürfte.

The Rope ist ein rundum guter Popsong inklusive New-Order-Gitarre, der mit einem anderen Arrangement aber auch gut ins Repertoire von Muse passen würde. Das hoch romantische Blind setzt auf Coldplay-Feeling und eine ähnliche Ausgangskonstellation wie Bob Dylans If You See Her, Say Hello. Sogar ein paar House-Anleihen gibt es in Only You, dazu eine Gitarre, die ein kurzes Stück aus Feels Like Heaven (1983 ein Hit für Fiction Factory) nachzuspielen scheint.

Diese Eighties-Referenz zeigt: Es gibt natürlich auch Kontinuitäten. Das erhebende Somebody To Die For erinnert von den neuen Stücken vielleicht am meisten an das Debütalbum, auch wenn Hurts auch hier immerhin noch ein Gitarrensolo hineingeschummelt haben: Die Streicher glänzen, der Computerbeat ist wunderbar ausgetüftelt. Auch The Crow gehört in diese Kategorie, ein Lied mit sagenhafter Eleganz und all der Theatralik, die man sich nun einmal von Hurts wünscht.

Zu den Gemeinsamkeiten mit Happiness gehört auch, dass Exile ein paar schwache Momente hat. Mercy klingt gigantisch, aber hohl, worüber auch das kaputte Orchester am Ende nicht hinwegtäuschen kann. Miracle lässt im Refrain ein wenig befürchten, dass Hurts während ihrer vielen Aufenthalte in Deutschland irgendwann auch einmal mit der Musik von Unheilig kontaminiert wurden, allerdings haben sie ein paar raffinierte Details eingebaut, die das Lied dann doch vor derlei Peinlichkeit bewahren.

Nicht zuletzt sind auch zwei andere Eckpfeiler bei Hurts die gleichen geblieben. Nach wie vor geht das Duo sehr effizient mit seinen Ideen um: Hurts wissen, dass eine gute Melodie, ein guter Beat und ein gutes Auge für Kleinigkeiten ausreichen, um einen guten Popsong hinzubekommen. Und nach wie vor wird ihre Musik vor allem aus dem Schmerz geboren. Fast jeder Song thematisiert Ärger, Kummer, Schmutz und Schmach. “If I cry any more then my tears will wash me away” sängt Theo Hutchcraft in Help. “I feel just like a sick disease”, bekennt er in Cupid, und in Only You ist von einem „sea of scars“ die Rede.

Wie schon auf Happiness suchen Hurts die Flucht daraus, diesmal – je nach Song – auf eine einsame Insel, in den Schlaf, die Blindheit, die Zweisamkeit oder durch den Beistand höherer Mächte. Hurts sind nach wie vor verletzt, gekränkt, sogar gebrochen, und sie finden nach wie vor in ihren Liedern einen Ausweg dafür. Exile ist deshalb in erster Linie Eskapismus. Und Erlösung.

Ganz hinten: ein Gitarrist! Hurts spielen Blind live in London:

httpv://www.youtube.com/watch?v=j0H-MKLLjiA

Homepage von Hurts.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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3 Gedanken zu “Hurts – „Exile“

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