Künstler | Justin Timberlake | |
Album | The 20/20 Experience | |
Label | Sony | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
Man kann nur staunen über Justin Timberlake. Der Mann war Kinderstar, Teenieschwarm und schaffte dann den sogenannten „Robbie Williams-Absprung“: von der Boyband hin zu einer erfolgreichen, relevanten Solokarriere. Er hat sechs Grammys bekommen und von seinen ersten beiden Platten insgesamt 16 Millionen Exemplare verkauft. Jetzt ist er 32, sieht immer noch ein wenig aus wie ein Nesthäkchen, muss aber spätestens mit dem neuen Album The 20/20 Experience als ernsthafter Popkünstler betrachtet werden.
Sagenhafte sieben Jahre sind seit seinem letzten Album FutureSex/LoveSounds vergangen. Das mag man kaum glauben, denn Justin Timberlake war in dieser Zeit ständig präsent, durch seine Gastauftritte unter anderem bei Nelly Furtado, Madonna, 50 Cent und Timbaland oder durch seine Rollen als Schauspieler (The Social Network). Zwischendurch hatte er sogar noch Zeit, Jessica Biel zu heiraten und MySpace zu kaufen.
Sein drittes Solowerk klingt, als sei nichts davon geschehen, sondern als hätte er die gesamten sieben Jahre genutzt, um erstens eine ausgiebige Entdeckungstour durch die Welt der Black Music zu starten und sich dann zweitens ewig lang im Studio einzuschließen und an einer Platte zu tüfteln, für die das Wort „Kunstwerk“ nicht ganz unangebracht ist. The 20/20 Experience ist vor allem im Vergleich zu all der stromlinienförmigen Fließbandmusik, die Künstler in diesem Genre und mit diesem Erfolg sonst normalerweise absondern, sagenhaft kreativ.
Schon Pusher Girl Love deutet das an: Es ist ein Opener ohne jeden Knalleffekt. Streicher und eine Hammodorgel sorgen für eine Atmosphäre, die ebenso sexy wie funky ist (und eher an Stevie Wonder denn an Michael Jackson geschult), bevor sich das Stück nach fünf Minuten in Richtung HipHop verschiebt.
Nach diesem Rezept geht es weiter: Alleine die schmeichelnde Stimme von Justin Timberlake sorgt hier für plakative Eingängigkeit, alles andere setzt eher auf Flow denn auf Wiedererkennbares. Die meisten Songs auf The 20/20 Experience wären auch als instrumentale Versionen interessant, die zehn Tracks kamen auf eine Gesamtlänge von stattlichen 70 Minuten. „If Pink Floyd and Led Zeppelin can do 10-minute songs and Queen can do 10-minute songs then why can’t we? We’ll figure out the radio edits later“, erklärt Timbaland, der hier wie schon auf den ersten beiden Timberlake-Alben wieder allgegenwärtig ist.
Don’t Hold The Wall ist der erste Beitrag des Albums, den er produziert hat, und das Stück wird sagenhaft mutig: Es beginnt als schräger HipHop, der die erstaunliche Frage aufwirft, ob es eine Schnittmenge zwischen The Roots und den Black Eyed Peas gibt, dann gesellt sich etwas dazu, das wie ein Muezzin klingt, danach eine rückwärtslaufende Orgel und Bongos, am Ende hat sich Don’t Hold The Wall beinahe in einen Electro-Track à la Gary Numan oder Brian Eno verwandelt. Es gibt nicht viele amerikanische Mainstreamgrößen, von denen man so etwas erwarten darf.
Strawberry Bubblegum (mit Barry-White-Gedächtnisstimme und schön leichtfüßig) und das spannende Tunnel Vision sind weitere Timbaland-Beiträge. Auch da klingt Justin Timberlake zwar nicht ganz nach Avantgarde, aber doch wie jemand, der experimentiert, Grenzen sprengt und Konventionen ignoriert – nicht wie ein saturierter Megastar.
Dazu kommt die Single Suit & Tie, als Kollaboration mit Jay-Z, und dementsprechend elegant und verspielt. Mirrors, die zweite Single, ist am ehesten in der Nähe eines konventionellen Popsongs anzusiedeln, verbietet sich aber ebenfalls allzu offensichtliche Politur: Es gibt eine Beatbox statt Schlagzeug, die Streicher werden zwischendurch von einer fast schüchternen E-Gitarre in den Schatten gestellt, gegen Ende gibt es einen irren acappella-Teil, wenn Justin Timberlake die Beschworung „You are the love of my life“ gar nicht oft genug äußern kann. Nicht zuletzt ist eine Länge von acht Minuten auch nicht gerade das typische Charts-Radio-Format.
That Girl ist herrlich ungezwungener Soul, toll gesungen und so retro, dass man sich die hier Angebetete nur in schwarz-weiß vorstellen kann. Let The Groove Get In beginnt mit afrikanischen Rhythmen und Gesang aus Burkina Faso, dann gibt es riesengroße Bläserparts und zum Finale ein wenig Lionel-Richie-Feeling. Blue Ocean Floor ist am Ende des Albums eine hochmoderne Ballade, wie man sie sich auch von Björk (!) vorstellen könnte.
Ein Manko an The 20/20 Experience: Durch den Fokus auf Atmosphäre statt Kompaktheit verschwimmt vieles, es fehlt dem Album trotz aller Vielseitigkeit, ungewöhnlichen Beats und spontanen Tonartwechseln an ein paar Ausreißern in puncto Tempo oder Dynamik. Auch die Texte kranken auf Dauer ein wenig daran, dass es hier nur ein Thema gibt: Frauen. Justin Timberlake mag sie, möchte sie für sich gewinnen und dann verwöhnen – dagegen ist nichts zu sagen, aber selbst als Frau dürfte man nach gut 79 Minuten (inklusive der beiden Bonus Tracks auf der Deluxe Edition) ein wenig gelangweilt von diesem Bekenntnis sein.
Spaceship Coupe ist ein Beispiel dafür: kokett, verführerisch, mit viel Stil – aber letztlich zu wenig Ideen. Auch die Bonustracks, beide gemeinsam mit Timbaland entstanden, fallen in diese Kategorie: Dress On ist nicht uninspiriert, aber ordinär in mehr als nur einer Hinsicht. Body Count setzt auf Bläser, Percussions und Outkast-Übermut, fügt dem Album (und dem Themenspektrum) aber nichts Entscheidendes hinzu.
Nichtsdestotrotz bleibt diese Platte komplex, verblüffend und extrem ambitioniert. The 20/20 Experience zeigt: Es gibt nur einen legitimen Grund dafür, einen Status anzustreben, wie Justin Timerlake ihn erreicht hat. Und das ist, dass man sich, hat man diesen Status erst einmal erreicht, künstlerisch alles erlauben kann.
Justin Timberlake singt Mirrors bei Wetten Dass:
httpv://www.youtube.com/watch?v=JIwIHnvy3R0