Künstler | Nirvana | |
Album | Nevermind (Deluxe Edition) | |
Label | Universal | |
Erscheinungsjahr | 2011 | |
Bewertung |
Kurt Cobain, heute auf der Bühne? Man kann es sich nicht vorstellen. Nicht nur, weil sich der Frontmann von Nirvana 1994 das Leben genommen hat. Sondern auch, weil er Ruhm, Erfolg, Vereinnahmung und seinen Versuch, inmitten all dessen glaubwürdig zu bleiben, stets messerscharf reflektierte. Bis zur Selbstzerfleischung.
Es wäre durchaus spannend gewesen, Cobains Meinung zum aktuellen „Klassiker live“-Trend zu erfahren. Denn eine ganze Reihe von Indie-Göttern ist zuletzt der Versuchung erlegen, in späten Jahren den frühen Ruhm von einst noch einmal aufleben zu lassen. Die Pixies, sicher der wichtigste Nirvana-Einfluss überhaupt, haben eine ganze Tour bestritten, bei der sie Doolittle noch einmal zum Besten gaben. Sonic Youth und Dinosaur Jr. (zwei Bands, mit denen Nirvana in ihren Anfangstagen auf Tour waren) haben diese Masche ebenfalls bereits gefahren. Auch Pearl Jam und die Melvins, zwei weitere Wegbegleiter, gaben ihren Fans schon die Möglichkeit zu derlei Konzert-Zeitreisen.
Nirvana hingegen haben immer propagiert (und vorgelebt), dass Rockmusik jung, frisch und gefährlich sein muss. Eine Revival-Show zum Jubiläum von Nevermind, das in diesen Tagen 20 Jahre alt wird, wäre auch mit einem lebendigen Kurt Cobain (er wäre heute 44) deshalb wohl ausgeschlossen. «Ich möchte nicht irgendwann die Songs umarrangieren müssen, damit sie zu meinem Alter passen», hatte er schon kurz nach dem Erscheinen von Nevermind gesagt.
Die Platte war im September 1991 wie ein Tsunami über die Musiklandschaft hinweggefegt. The Year That Punk Broke heißt ein Dokumentarfilm, der den Siegeszug von Grunge im Allgemeinen und Nirvana im Besonderen einfing. Der Vergleich mit 1977, der in diesem Titel angestellt wird, mag noch anmaßend gewirkt haben, als der Film im Kino lief. Heute, mit 20 Jahren Abstand, ist er es nicht mehr.
Nevermind war «der Anfang vom Ende der klassischen Rockmusik», wie der Musikexpress es einmal formuliert hat. «Nevermind ist zum Klassiker geworden; zu einem jener seltenen Alben, die ihre Fans auf deren Weg durchs Leben begleiten und gleichzeitig neue Fan-Generationen für sich gewinnen», erkennt auch der Rolling Stone an, der Nevermind zudem auf Platz 7 unter den 500 besten Platten aller Zeiten einordnet.
Auch die Macher sind durchaus stolz darauf. Für Nirvana-Schlagzeuger Dave Grohl, inzwischen längst mit den Foo Fighters als Frontmann erfolgreich, war Nevermind «das größte Ding meines Lebens». Bassist Krist Novoselic findet die Platte auch heute noch «einfach stark. Sie hat absolut keine Schwachstellen. Ich überspringe nie einen Song, denn jeder einzelne hat etwas zu sagen.» Und wenn Nevermind-Produzent Butch Vig, der später als Mitglied von Garbage große Erfolge feierte, heute von einer Band gebeten wird, ob er sie vielleicht so klingen lassen kann wie Nirvana, dann antwortet er: «Dann schreibt erstmal so geniale Songs wie es Kurt Cobain getan hat.»
Zum 20. Jubiläum erscheint das Meisterwerk nun neu. Die Bandbreite reicht vom Originalalbum auf einer Remaster-CD über eine Doppel-CD mit allen B-Seiten und reichlich Bonustracks bis hin zur Super Deluxe Edition, die 4 CDs plus eine DVD und ein 90-seitiges Buch enthält.
Das Bonusmaterial bietet Nirvana-Jüngern eine gute Möglichkeit, die Entwicklung der Band nachzuzeichnen. Vor allem wird klar: Schon die Demo-Aufnahmen sind weitaus weniger ramschig als alles, was auf dem Nirvana-Debüt Bleach zu finden war. „Es wird poppiger“, hatte Kurt Cobain schon vor dem Erscheinen von Nevermind in Interviews gewarnt (womöglich ein vergeblicher Versuch, sich vorab vor den dann tatsächlich eintretenden Ausverkauf-Vorwürfen zu schützen) – und die Demos der bereits unter der Regie von Butch Vig laufenden Smart Studio Sessions beweisen das.
Bestes Beispiel ist das bis dahin unveröffentlichte Here She Comes Now. Das ist natürlich rotzig gesungen und mündet nach zweieinhalb Minuten in einem Neil-Young-Gitarrenrausch, bietet bis dahin aber einen fast sanften Sound, der auch den Lemonheads gut gestanden hätte oder, mit anderer Instrumentierung, sogar dem damals noch schwer angesagten Phil Collins (wer diesen Vergleich blasphemisch findet, sei daran erinnert, dass Miley Cyrus unlängst Smells Like Teen Spirit gecovert hat).
Alle Nevermind-Songs haben hier schon genau die Struktur, die sie später auf dem endgültigen Album haben würden. Manches hat lediglich noch nicht den Punch von Nevermind, gelegentlich wurden die Arrangements (Lithium enthält hier noch eine akustische Gitarre) oder Texte (Stay Away firmiert noch als Pay To Play) noch leicht verändert.
Die Deluxe-Edition illustriert auch, wie kreativ Nirvana in dieser Phase waren und wie qualitativ hochwertig der Output der Sessions war. Songs wie Dive oder Aneurysm wären auch auf Nevermind nicht abgefallen – letztlich öffnete gerade dieses Niveau die Tür für die Resteverwertung Incesticide, die ein Jahr nach Nevermind der Anfang des Cash-Ins war.
Anderes zeigt, dass nicht jeder Moment von Nirvana ein magischer war: Das Trio fügte Punk, Metal und Hardcore zusammen, wie es einige Bands Ende der 1980er Jahre taten. «Aggressiver Garagen-Rock aus dem Underground von Seattle» – mit diesem Slogan warb die deutsche Plattenfirma damals für Nevermind. Genau das (und meist nicht mehr) wird vor allem auf den Live-Aufnahmen dann auch geboten. Auch die hier ebenfalls gebotenen Boombox Rehearsals (unter anderem Smells Like Teen Spirit mit anderem Strophentext, Something In The Way, das klingt, als stamme es aus den 1920er Jahren, und eine atemlose Version von Lounge Act) und Drain You und Something In The Way aus den BBC-Sessions lassen noch einiges von der Raffinesse vermissen, die Nevermind dann auszeichnete.
Denn gerade diese erstaunliche Pop-Sensibilität war es, die aus Cobain, Grohl und Novoselic die Speerspitze des neuen Rock machte. Und natürlich mit Cobain ein Frontmann, der zur Verkörperung der Generation X wurde, einer Generation, «die mit sich selbst nichts anzufangen wusste, der es viel zu gut ging, als dass sie zu irgendwelchen Revolten imstande war; die aber zumindest, und dafür eignete sich Nevermind ideal, mit Aufbegehren und Verweigerung kokettieren wollte», wie es der Tagesspiegel formuliert.
Innere Zerrissenheit, die Suche nach einem Ventil dafür und das Wissen um die Mechanismen und die Lächerlichkeit des Pop-Geschäfts – all dies floss bei Nirvana unmittelbar in die Musik. Deshalb ist Nevermind auch 20 Jahre nach seinem Erscheinen kein bisschen konventioneller oder versöhnlicher geworden, deshalb funktioniert diese Platte noch immer, deshalb hängen sich Teenager nach wie vor Poster mit der Leidensmiene von Kurt Cobain an die Wand.
Diese Musik ist voller Intensität, Authentizität und Leidenschaft, aber auch voller Sarkasmus. Kurt Cobain, der eine schwierige Kindheit hatte, an Depressionen und chronischen Magenschmerzen litt, ficht in diesen Liedern den Kampf mit seinem Schmerz aus, aus dem er niemals so richtig als Sieger hervorgeht. Dass man zu hartem Rock auch seine weiche Seite zeigen kann, das war vorher undenkbar – und Cobain ebnete damit den Weg für spätere Heulsusen von Radiohead bis Nickelback. REM bekamen wegen des Nirvana-Erfolgs einen mit 80 Millionen Dollar dotierten Plattenvertrag, ein anderes Label prognostizierte mutig, dass Pearl Jam die erfolgreichste Band der nächsten 20 Jahre werden würden – und ließ dann ebenso großzügig die Dollars fließen.
Vor allem aber pulverisierte der Ansatz von knüppelhartem Sound und hoch sensiblen Texten die etablierten Genres im Musikgeschäft. Am besten illustriert das wohl der Siegeszug des Videoclips zu Smells Like Teen Spirit, dem ersten Song auf Nevermind, der zur «Nationalhymne zur Gründung der Alternative Nation» (Musikexpress) wurde. Der Song ist für sich genommen schon ein Monster, doch das Video beschleunigte den Aufstieg Nirvanas extrem.
Schlagzeuger Dave Grohl erinnert sich: «Teen Spirit etablierte die Laut-Leise-Dynamik, auf die wir später regelmäßig zurückgriffen, insofern war dieser Song die Visitenkarte der Band. Aber es war wohl das Video, das daraus einen Hit machte. Wenn die Kids den Song im Radio hörten, dachten sie vielleicht: ‹Klingt nicht übel›, aber als sie dann das Video sahen, hieß es: ‹Verdammt cool. Diese Jungs sehen verdammt fertig aus – so als wollten sie ihre gottverdammte Highschool in Schutt und Asche legen.›»
Der Clip lief, und das war höchst erstaunlich, sowohl bei Headbanger’s Ball (dem MTV-Format für Hardrock) als auch bei 120 Minutes (der Show für Indie-Kids) rauf und runter – das waren zwei Lager, die bisher nichts miteinander zu tun hatten und sich sogar gegenseitig verachteten. Säufer und Kiffer, Machos und Schluffis, Lederstiefel und Turnschuhe: Nirvana führten das alles zusammen. Sie waren aggressiv genug für die Metal-Fraktion, aber sie hielten ebenso den alternativen Lebensstil hoch, setzten sich für Feminismus ein und machten sich über das System lustig. «Wer glaubt, den kapitalistischen Moloch ignorieren zu können, ist auf dem Holzweg. Man muss ihn ausbeuten, man muss ihn vergewaltigen – genauso, wie er dich vergewaltigt», sagte Kurt Cobain einmal.
Die alte Rockkultur, in der man eher Haarspray brauchte als ein kaputtes Holzfällerhemd (lustiger Rockfakt: Während der Zeit der Aufnahmen wohnten Nirvana im selben Gebäudekomplex wie Europe, die damals dem Erfolg von The Final Countdown nachhechelten und sich ansonsten mit Groupies amüsierten), pusteten Nirvana einfach weg. «Die Fans und die Leute aus der Musikindustrie haben dafür zu sorgen, dass uns nicht mehr so schale und lahmarschige Musik vorgesetzt wird, wie in den vergangenen zehn Jahren», forderte Kurt Cobain zur Zeit von Nevermind – obwohl er einige der etablierten Elemente ebenfalls nutzte. Ähnlich wie viele Metal- und Hardrock-Platten aus der Zeit ist auch Nevermind schlecht gelaunt und voller Verachtung auf die Welt. Aber bei Nirvana gab es keine Posen, keinen Spaß, keine Oberfläche. Vor allem gab es für sie, und das ist der Unterschied zu den Vorgängern, keine Katharsis – nicht in der Musik, erst recht nicht durch Ruhm, Erfolg oder Groupies. Das Leiden ging immer weiter.
Es ist fast Ironie des Schicksals, dass sich Cobain drei Jahre nach Nevermind auch deshalb das Leben nahm, weil er mit dem Status als Rock-Millionär, Mode-Ikone und Sprachrohr einer Generation nicht zurecht kam – schließlich wollte er immer bloß er selbst (und das heißt: am liebsten auch dagegen) sein. Denn genau dieses Dilemma löste der Ansatz von Nirvana im Laufe der Jahre auf: Pop zu machen und zugleich zu zerstören, ein Lebensgefühl zu artikulieren und sich zugleich zu verweigern. Seitdem sind die Zeiten passé, in denen eine Subkultur automatisch auch Gegenkultur ist. Underground und Mainstream verschmelzen. Nirvana waren der Auslöser dafür. Doch für Kurt Cobain kam diese Revolution zu spät.
Eine Urgewalt: Nirvana spielen Smells Like Teen Spirit bei The Word – und Kurt Cobain preist vorab die Bettqualitäten von Courtney Love:
httpv://www.youtube.com/watch?v=YDQDg4dmyDY
Eine Kurzversion dieser Rezension gibt es mit einer Fotostrecke zu Nirvana und zehn amüsanten Fakten zu Nevermind auch bei news.de.
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