Künstler | Oasis | |
Album | Time Flies | |
Label | Sony | |
Erscheinungsjahr | 2010 | |
Bewertung |
Es gibt drei Stufen, wenn man die Bedeutung einer Band erkennen will. Die erste Stufe: der Kopf. Dort hineinzukommen, ist nicht allzu schwer. Oft reicht ein einziges Wort (wie ein dämlich gestottertes Papapapapapapapapokerface), eine markante Tonfolge (wie das White-Stripes-Riff, das nun bis ans Ende aller Tage von Fußballfans diverser Nationen vergewaltigt werden wird) oder eine hübsche Melodie, die man auf dem Weg zur Arbeit pfeifen kann (wie meinetwegen alles, was OMD vor 25 Jahren gemacht haben), um sich in den Köpfen der Menschen festzusetzen.
Die zweite Stufe ist schon ein bisschen schwieriger. Es geht ums Herz. Hier muss der Hörer selbst aktiv werden. Denn ins Herz schließt man ein Lied normalerweise nicht wegen seines Textes, seiner Komposition oder des Arrangements. Sondern wegen des Kontexts. Ein unvergesslicher Konzertabend, an dessen Ende der erste Kuss steht. Eine schwere Zeit, in der ein ganz spezieller Song der einzige Trost ist, um die eigene Trauer zu überwinden. Ein Karaoke-Versuch, bei dem man sich vor Übereifer fast den Hals bricht. Solche Momente vergisst man nicht – und schon gar nicht die Lieder, die dazugehörten.
Die dritte Stufe aber ist die Krönung der Bedeutsamkeit. Es braucht eine quasi magische Konstellation, ein Jahrhunderttalent und herkulischen Heldenmut, um dorthin zu gelangen, und nur die Besten stoßen in diese Dimension vor: die Haare. Jawohl. Eine wirklich prägende, epochale, bedeutsame Band erkennt man an den Haaren. Wenn die Leute plötzlich deine Frisur tragen wollen, dann hast du es wirklich geschafft.
Ob Beatles, Sex Pistols oder Nirvana: Sie alle sahen auch in puncto Haartracht ganz speziell aus, ihre Fans griffen diesen Look auf und machten ihn zum Ausdruck ihrer Jugendkultur. Wer also noch einen Beweis braucht, dass Oasis die bedeutendste Rockband der vergangenen 20 Jahre waren, der muss sich nur in der Fußgängerzone umschauen. Noch immer laufen dort jede Menge junge Männer rum, die von der Stirn an aufwärts aussehen wie Noel und Liam.
Natürlich bin auch ich einer davon. Zu meiner Verteidigung kann ich anführen: Ich hatte diese Frisur schon immer, seit ich Haare habe. Oasis kamen mir auch deshalb höchst gelegen, denn sie haben dafür gesorgt, dass mein Kopf plötzlich modern aussah.
Auch deshalb soll hier bitte niemand eine neutrale Kritik von mir erwarten. Ich will gar nicht lange drumrum reden: Oasis sind Götter für mich. Es soll Menschen geben, die daran zweifeln, dass Musik ganz unmittelbaren Einfluss auf unser aller Biographien nehmen kann. Aber selbst wenn ich in 30 Jahren darüber schmunzeln sollte, wie viel mir diese Band einmal bedeutet hat, werde ich auch dann nicht abstreiten können: Oasis haben mein Leben verändert. Ohne diese Band, ohne diese Lieder (und ohne diese Frisur) wäre ich heute ein anderer Mensch.
Sie kamen genau zu der Zeit, als ich eine Band brauchte, die mehr im Sinn hatte als Destruktion, Zweifel und Larmoyanz. Sie waren ein Aufbruch, und fortan malte ich ihr Logo auf die Schulbänke, lernte ihre Songs auf der Gitarre und wurde immer noch überzeugter in meiner Bewunderung mit jeder Stufe, die Oasis auf der Leiter zur berühmtesten Rockband der Welt erklommen.
Plötzlich war da eine Bewegung, eine Tradition, eine Perspektive. Und, im Gegensatz zu den Nirvana-Jüngern, Techno-Fans oder HipHoppern in meiner Generation waren Oasis nie auf Exklusivität angelegt. Man konnte sie, am Anfang, wunderbar als Insider-Tipp ganz für sich haben. Als sie dann aber die Welt eroberten, war das kein Makel, sondern von Band und Fans gewollt und nur die schlüssige Konsequenz ihrer Großartigkeit. Und die Frisur trug ich da schon längst nicht mehr aus Zufall, sondern als Symbol.
Man mag den Zusammenhang von Frisur und Musik für eine alberne Argumentation halten. Doch die Matte lässt bei Oasis auch erstaunliche Rückschlüsse auf die Mucke zu. Denn ebenso wie die Band aus Manchester in 15 Jahren quasi keinen einzigen innovativen Ton hervorgebracht hat, so ist natürlich auch die Frisur ganz und gar Referenz, Tradition, Statement. Den leicht verwilderten Pilzkopf, den man in Friseursalons in der Provinz womöglich noch immer «Britpop-Schnitt» nennt, haben die Brüder Gallagher nämlich selbstverständlich nicht erfunden, sondern von den Stone Roses geklaut, die ihn wiederum von den Beatles übernommen haben.
Damit sind schon zwei der drei wichtigsten Elemente in der Karriere von Oasis benannt: die Betonung einer spezifisch britischen Tradition. Und der Anspruch, sich von dieser beeindruckenden Ahnenreihe nicht nur inspirieren zu lassen, sondern es den Vorbildern gleich zu tun, sie gar zu übertreffen. Standing On The Shoulder Of Giants könnte man dieses Prinzip nennen, so wie das vierte Oasis-Album.
Das dritte konstituierende Element ist Optimismus. Das mag heute banal klingen, war aber am Beginn der Oasis-Karriere ebenso aufsehenerregend wie die Behauptung, besser als die Beatles zu sein. Denn 1994, als Oasis ihre erste Single Supersonic veröffentlichten, war die Gitarre zum Trübsalblasinstrument verkommen.
Sechs Tage, bevor Supersonic in die Läden kam, hatte sich Kurt Cobain erschossen – eine im Rückblick faszinierende zeitliche Nähe. Denn gegen den Grunge-Sound, für den der Nirvana-Frontmann das Aushängeschild war, waren die Gallagher-Brüder angetreten. Noch heute ist das mein allerliebstes Liam-Gallagher-Zitat: „Don’t talk to me about Nirvana. And you can fuck your fucking Pearl Jam.“ Bei Oasis ging es nicht um Introspektion, Psychoanalyse oder postpubertäres Gejammer wie bei vielen Grunge-Bands. Die Gallaghers spielten in einer Band, um Spaß zu haben – und der Welt zu zeigen, dass sie die Größten sind.
Die furiosen 283 Sekunden von Supersonic waren ein Blitzkrieg gegen das weinerliche Selbstmitleid, das vor allem den US-Rock wie eine Epidemie befallen hatte. Oasis setzten dem Euphorie, Kampfeslust und Hedonismus entgegen.
Wie bedeutend dieser Paradigmenwechsel war, wird erst im Rückblick deutlich, den Time Flies ermöglicht, die Sammlung sämtlicher Oasis-Singles auf einer Doppel-CD. Oasis waren die erste Band seit langem, die Rockmusik machte, die das Leben bejahte, die erfolgreich sein wollte und bewundert. Spätere Rockgrößen wie die Strokes, Franz Ferdinand oder die Kings Of Leon wären ohne diesen Ansatz undenkbar.
All dies gelang Oasis dank der einzigartigen Kombination der Gallagher-Brüder. Wie essentiell beide für die Band waren, zeigt sich nicht nur seit der offiziellen Auflösung im August 2009. Noel Gallagher plant Soloprojekte, sein jüngerer Bruder Liam wollte ursprünglich die Band ohne den musikalischen Kopf weiterführen. Doch allen Beteiligten war von Anfang an klar, dass keine wie auch immer geartete Zukunft die Magie dieses Duos würde erreichen können.
Liams sagenhafte Stimme, die ebenso angriffslustig wie rührend sein kann, die in jedem Moment Attitüde ist und doch stets mitten aus dem Herz kommt, und Noels unbestreitbarer Status als «bester Songschreiber seiner Generation» (Beatles-Produzent George Martin), waren nicht nur die Triebfedern für einen lebenslangen Konkurrenzkampf, sondern auch die Basis für eine unvergleichliche Karriere.
Time Flies ist aber auch der Beweis, dass Oasis nicht wegen ihrer kulturellen Bedeutung in Erinnerung bleiben werden, der Schlagzeilen im Boulevard oder den Einträgen im Guinness Buch der Rekorde (alle ihre Alben erreichten Platz 1 in Englands Charts, 22 Singles in Folge kamen in die Top 10, mehr als 2,5 Millionen Menschen wollten Tickets für ihre zwei Open-Air-Konzerte in Knebworth 1996 haben, das ein Jahr später erschienene Be Here Now war das am schnellsten verkaufte Album aller Zeiten). Sondern wegen der Musik.
26 Singles, vom wilden Rock’N’Roll Star über Klassiker wie Whatever, Live Forever und Wonderwall bis hin zu wunderhübschen Akustikskizzen wie Songbird, kaum eine davon weniger als perfekt. Auch die schwächsten dieser Lieder würden jeder Newcomer-Band Lobeshymnen einbringen, mit einem Bruchteil dieser Klasse könnten andere Gruppen eine ganze Karriere bestreiten.
Dazu kam bei Oasis eine Energie, die man sonst nur bei Fußballspielen erlebt: Diese Band brauchte die unbedingte Anbetung durch die Fans. Erst diese Bewunderung spornte sie zu Großtaten an – und brachte ihnen in der Folge noch mehr Beifall.
Wer Oasis einmal vor einem unbeteiligten Publikum erlebt hat, beispielsweise bei einem Festival, der konnte erleben, wie leicht dieses Konstrukt kollabieren und in Unlust und gegenseitiger Enttäuschung enden konnte. Ich selber habe das bei Rock am Ring 2000 miterlebt. Ein paar Tage vorher hatten Oasis im Leipziger Haus Auensee noch eine göttliche Show vor einem atemlosen Publikum hingelegt. Nun hatte sie ebenso wenig Lust auf ein Publikum, das erst überzeugt werden wollte, wie die Fans auf eine Band, die sich keinerlei Mühe gab, sie für sich zu gewinnen.
Wer hingegen ein Konzert in England sah, vor eingefleischten Oasis-Afficionados, der wurde Teil eines unvergleichlichen Synergieeffekts, der sogar so stark war, dass die im Prinzip meist sinnlosen Texte von Oasis plötzlich wie Philosophie klangen, wie die Form all dessen, was man heraus lassen wollte, wie ein Glaubensbekenntnis. „I need to be myself / I can be no one else“, die ersten Zeilen von Supersonic, sind so ein Beispiel. Was auf dem Papier belanglos klingt, wird plötzlich zum perfekten Schlachtruf für den eigenen Stolz.
Der beste Beleg dafür sind die Statements am Anfang des Booklets von Time Flies. Hier kommen Fans zu Wort, aus Irland, Kanada oder Schweden. «Sie bedeuten alles», heißt es da. «Sie haben unsere Generation definiert.» «Wenn man Oasis hört, fühlt man sich selbst wie ein Rockstar.» Das ist die Wahrheit. Und auch wenn keine Bilder zu sehen sind, ahnt man, dass all diese Fans nicht nur die Liebe zu Oasis gemeinsam haben. Sondern sehr wahrscheinlich auch: die Frisur.
Es funktioniert noch immer. Und es klingt nach wie vor geil: Supersonic, live in London 2008:
httpv://www.youtube.com/watch?v=Zq_vSC04Ssc
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