Okkervil River – „I Am Very Far“

Künstler Okkervil River

Auf "I Am Very Far" verschmelzen Musik und Gesang.
Auf „I Am Very Far“ verschmelzen Musik und Gesang.
Album I Am Very Far
Label Jagjaguwar
Erscheinungsjahr 2011
Bewertung

Der spannendste Moment, um mit einem Musiker über sein neustes Werk zu sprechen, ist in der Regel die Phase kurz vor der Veröffentlichung. Der Künstler hat da noch ein bisschen Studiodreck unter den Fingernägeln und ist zugleich gespannt, wie die neuen Stücke wohl ankommen werden. Dieser Zeitpunkt zwischen Euphorie und Zweifel, zwischen Hoffen und Bangen, bringt meist die erhellendsten Aussagen über die Musik.

In diesem Fall ist das anders. Mit Will Sheff, dem Songwriter und Kopf von Okkervil River, will man am liebsten erst in ein paar Monaten, vielleicht sogar erst irgendwann im Jahr 2013 über I Am Very Far sprechen, das gerade erschienene sechste Album der Band aus Texas. Denn was diese Musik ausmacht, was das alles zu bedeuten hat, das weiß Sheff wahrscheinlich selbst noch nicht. Das Einzige, was er immer wieder betont: Diesmal wollte er alles ganz anders machen.

„The goal was to push my brain to places it didn’t want to go. The idea was to not have any idea – to keep myself confused about what I was doing“, erklärt er die Herangehensweise an diese elf Stücke, die alle in unterschiedlichen Studios aufgenommen wurden. Fast klingt das so, als sei er nicht Schöpfer dieser Klänge, sondern als sei die Musik im Laufe der zwei Jahre, die Okkervil River an I Am Very Far gearbeitet haben, Herr über ihn geworden. Damit liegt man gar nicht so falsch. „I wanted the music and lyrics to be both completely wedded together and a little bit beyond my control. I kept trying to write from the state of mind of someone who had just been born.“

Um diesen Ansatz in die Tat umzusetzen, wurde I Am Very Far immer wieder über den Haufen geworfen. Songs wurden zerstückelt und ergänzt. Für manche Stücke, beispielsweise das wuchtige Wake And Be Fine, wurde eine Heerschar an Musikern (zwei Schlagzeuger, zwei Pianisten, zwei Bassisten, sieben Gitarristen) in einen einzigen Raum gesperrt, wo sie eine Woche lang immer wieder denselben Song spielen mussten, bis der ultimative Take im Kasten war.

Man hört I Am Very Far diesen Willen zum Besonderen und zur Perfektion an. In den schwächsten Momenten bezeugt die Musik auch, dass hier nicht nur viel inspirierter Musiker-Schweiß drinsteckt, sondern jedes Stück auch eine genau kalkulierte Kopfgeburt ist. Der Opener The Valley ist so ein Fall, der seltsam überladen und plump daher kommt.

In anderen Momenten bezaubert und beeindruckt I Am Very Far, mitunter raubt es einem sogar den Atem. Das famose Rider (noch so ein Lied, das einer Marathon-Session entsprungen ist) hat die Inbrunst von The Gaslight Anthem, die Komplexität von The Jam und das Wissen der späten Oasis, dass Größenwahn meistens am besten klingt, wenn man ihn schon hinter sich hat. Lay Of The Last Survivor ist ebenso schläfrig und hübsch wie das sonst nur Bright Eyes hinbekommen. Piratess, eines der reduziertesten Stücke der Platte, ist verdammt sexy geworden.

We Need A Myth klingt nicht nur im Titel wie ein Manifest, sondern auch in der Musik – und genauso bestimmt, leidend und unbedingt singt Will Sheff das Stück auch. Es ist das beste Beispiel dafür, wie nahe er hier seinem Ziel gekommen ist, Musik und Text untrennbar miteinander verschmelzen zu lassen. Auch wenn das bei einem Mann, der von Pitchfork als „one of the best lyric-writers in indie rock“ geadelt wurde, manchmal bedeutet, dass man die tollen Texte nicht mehr so stark wahrnimmt. Das famose Hanging From A Hit ist vielleicht kein Requiem, aber in jedem Fall das traurigste Lied seit No One’s Gonna Love You von Band Of Horses.

Sollten Radiohead jemals den Blues entdecken und sich von ihm in den Wahnsinn treiben lassen, dann käme ein Ergebnis wie Show Yourself heraus. Danach greift Your Past Life As A Blast einige dieser Motive wieder auf, der Rausschmeißer The Rise führt dann mitten ins Paradies: Flöten jubilieren, der Gesang ist toll verschachtelt und selbst das Gitarrenfeedback (und etwas, das klingt wie die Geräusche der Handwerker von nebenan) kann die Harmonie nicht stören.

Ganz anders als alles, was Okkervil River bisher gemacht haben, ist das nicht. Aber es ist mutig, spannend, wunderschön.

Ins Video haben offensichtlich nicht alle Leute gepasst, die bei Wake And Be Fine im Studio waren:

httpv://www.youtube.com/watch?v=iHaCtxW6Vv8

Okkervil River bei MySpace.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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4 Gedanken zu “Okkervil River – „I Am Very Far“

  1. danke, danke für diese gebrochene lanze. ich bin auch ganz beglückt von der neuen okkervil river. textuell mal wieder ganz großes kino – obwohl ich es noch paar mal hören muss, bevor ich wieder so eine überzeile wie das leidend gesungene „the most beautiful poems/ and completely revealings“ aus „on tour with zykos“ ins hirn gebrannt bekomme.
    was deine rezi leider vernachlässigt ist das großartige artwork der platte mit blindprägung auf dem cover und schönem william schaff etching auf seite d. wiedermal ein beweis dafür, dass jeder auch nur halbwegs kunstsinnige mensch gefälligst vinyl kaufen sollte und technics in einer besseren welt niemals auf die idee gekommen wäre den 1210er sterben zu lassen.

  2. hi markus! danke für die blumen. das artwork würdige ich nur deshalb nicht, weil ich das album anhand einer schnöden promo-CD besprochen habe. blindprägung klingt aber sehr eindrucksvoll.

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