Künstler | Paul McCartney & Wings | |
Album | Wings Over America | |
Label | Universal | |
Erscheinungsjahr | 1976 | |
Bewertung |
Im Jahr 1976 war Paul McCartney längst nicht mehr unfehlbar. Es gab eine Menge, was er falsch machen konnte, man muss sich dazu nur den Gesang von Linda anhören oder seine grauenhafte Vokuhila-Frisur anschauen. In einer Hinsicht blieb er allerdings makellos: als Entertainer. Wings Over America ist der Beweis.
Mehr als 600.000 Menschen wollten die Beatles-Nachfolgeband damals bei den 31 Konzerten in Nordamerika sehen. Als Wings Over America als dazugehöriges Tondokument erschien, erreichte das Dreifach-Album Platz 1 in den US-Charts und immerhin noch Platz 8 in der englischen Heimat.
Jetzt gibt es das Werk als Neuauflage, das Remaster wurde stilecht in den Abbey Road Studios angefertigt und neben einer profanen Doppel-CD gibt es für gut betuchte Fans auch ein Deluxe-Edition-Box-Set, die zusätzlich eine Bonus-CD, eine DVD und vier (!) Bücher enthält. Doch schon die knapp zwei Stunden auf der Doppel-CD reichen aus, um die beiden wichtigsten Ziele von Paul McCartney zu erkennen: Er will hier unbedingt beweisen, dass die Wings eine echte Band sind. Und er will seinem Publikum eine tolle Party liefern.
Wenn man bedenkt, wie lange er mit den Beatles als Live-Künstler pausiert hat, dann ist es durchaus erstaunlich, wie perfekt und gekonnt er hier den Mittelpunkt der Show gibt und die Konzerte zu einem Happening macht. Es gibt viel 1970er-typische Opulenz und noch mehr USA-typische Professionalität.
Den Anfang macht gleich mal ein gut zehnminütiges Medley aus Venus And Mars, Rock Show und Jet. Die Show beginnt also mit einer Ballade und sanftem Picking, erst nach anderthalb Minuten wird daraus Bluesrock, der nicht weit weg ist von Thin Lizzy (und den es auf Wings Over America immer wieder zu hören gibt). Schließlich wird das Ganze zu Soul- und Bläser-infiziertem Spitzen-Pop, wie es ihn damals auch (schon) von Elton John und (noch) von The Who gab, und in den sich auch gerne ein Hardrock-Gitarrensolo einschleichen darf. Schon nach diesem Medley ist das Konzept klar: Paul McCartney bietet einen bunten Strauß, ein Rundum-Glücklich-Paket, das Disneyland des Pop.
Let Me Roll It wird zur innigen Ballade in der Nähe von Eric Clapton, Call Me Back Again ist ein toll gesungener Soul-Schleicher. Lady Madonna erklingt in einer deutlich schnelleren Version als bei den Beatles, und fast meint man, da eine ironische Distanz herauszuhören. Dafür gerät The Long And Winding Road grandios – und lässt fast vermuten, Macca habe sich doch noch mit dem opulenten Arrangement angefreundet, das Phil Spector dem Lied einst verpasst hatte. Live And Let Die ist schön dramatisch und profitiert tatsächlich vom Bestreben aller Beteiligten, zu beweisen, was für tolle Musiker sie sind.
Diese Momente von Muckertum sind nicht selten auf Wings Over America, und sie sorgen auch für einen beträchtlichen Anteil an Langeweile. Allerdings muss man dem Werk zum einen zu Gute halten, dass die 1970er Jahre einfach verrückt waren nach Extravaganz, noch mehr Instrumenten, noch mehr Stilen, noch mehr Soli, noch mehr Tempo. Zum anderen wollen die Wings sicherlich besonders gerne beweisen, dass sie kein Konstrukt aus der Retorte sind. Medicine Jar ist ein gutes Beispiel dafür: Gitarrist Jimmy McCulloch singt ausnahmsweise, dafür darf Paul McCartney als Bassist glänzen, dazu gibt es eine satte Dosis Rhythmus, Gitarre und Spaß am Zusammenspiel.
Beim an CCR gemahnenden Spirits Of Ancient Egypt darf dann auch noch Gitarrist Denny Laine singen, der später mit Picasso’s Last Words, Time To Hide, Go Now und Richard Cory noch weitere Auftritte am Mikro hat. Danach darf Paul McCartney wieder ran, er lässt I’ve Just Seen A Face eher nach Nashville klingen denn nach Nottingham, gibt Blackbird zauberhaft wie eh und je und beweist am Schluss von CD1, dass Yesterday nichts von seiner Majestät verliert, wenn man es mit der Gitarre spielt statt mit dem Klavier.
Die zweite CD bietet weniger Höhepunkte, dafür mehr Überraschungsmomente. You Gave Me The Answer klingt old-timey und verspielt, Magneto And Titanium Man wird ein inspirierter Roker, Go Now kann einigen Soul-Klassikern das Wasser reichen. Listen To What The Man Said lässt noch einmal die sagenhafte, magische Balladenstimme von Paul McCartney glänzen, Silly Love Songs hat viel Drive, Band On The Run zeigt vielleicht am deutlichsten das ganze Ausmaß seiner Ambitionen und Fähigkeiten.
Bezeichnend ist auch Beware My Love: Man spürt, dass er an dieses Lied glaubt, es verströmt genau die Innigkeit, die beispielsweise der Interpretation von Lady Madonna abgeht. Soily, das letzte von 28 Liedern, unterstreicht noch einmal, dass „live“ hier auch für „lebendig“ steht.
Aus heutiger Sicht fehlt Wings Over America in etlichen Passagen das Zwingende. Es gibt nichts auf diesen zwei CDs, das an die größten Momente von Paul McCartney heranreicht, und es gibt auch eine Menge, das nicht einmal sein durchschnittliches Niveau erreicht. Doch darum ging es damals auch gar nicht. Es ging darum, Präsenz zu zeigen, für die Künstler und für die Fans jeden Abend aufs Neue zu beweisen, dass Paul McCartney nach den Beatles, Musik nach den Beatles, ein Leben nach den Beatles möglich ist. Sir Paul wählte dafür eine Methode, die wunderbar zum Titel des Albums passt: Er setzt auf Könnerschaft und Akribie, er gibt den Dienstleister für seine Fans. Sehr amerikanisch.
Paul McCartney live 1976. Die Frisur bitte wegdenken:
httpv://www.youtube.com/watch?v=5Eh72flHfpQ