Künstler | Philipp Poisel | |
Album | Projekt Seerosenteich | |
Label | Grönland | |
Erscheinungsjahr | 2012 | |
Bewertung |
Es ist noch nicht allzu lange her, genauer gesagt etwa vier Jahre, da war Philipp Poisel bloß ein gescheiterter Chorsänger, ein gescheiterter Lehramtsstudent und ein gescheiterter Kosmopolit. Heute ist das alles anders. Seine beiden LPs haben Goldstatus erreicht, die Single Eiserner Steg hat sogar die Top10 erklommen. Der Sänger aus Ludwigsburg ist Special Guest inmitten all der Hipster beim Melt-Festival, zugleich hat er kein Problem damit, wenn seine Lieder zur Untermalung von vollkommen uncoolen deutschen Daily Soaps erklingen. Philipp Poisel scheint plötzlich so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner zu sein. Ein Popstar.
Der Grund dafür ist nicht allzu schwer zu durchschauen. Zum einen ist da natürlich der Glücksfall, dass Eiserner Steg zunächst in Matthias Schweighöfers Film What A Man und dann als Coverversion bei The Voice Of Germany zu hören war, was sich als ultimativer Karriereboost erwies. Zum anderen ist da aber auch die Tatsache, dass Poisel ein Bedürfnis befriedigt, das wunderbar in die Zeit passt. Seine Lieder sind meist solche, die Zweisamkeit zum Thema haben, auch den Wunsch, sich ins Private zurückziehen und die lärmende Welt draußen lassen zu können. Sie handeln von der Suche nach Behaglichkeit, aber auch nach Authentizität und Ursprünglichkeit. Das macht Poisel zum Gegenpol für Chaos in der Politik und Lady Gaga in den Charts.
Poisel besingt eine Sehnsucht, die viel mehr ist als nur Fernweh (Wo fängt der Himmel an) oder die Lust, dem Alltag zu entfliehen (Bis nach Toulouse). Für manch einen mag das gelegentlich ein bisschen arg banal sein. „Wenn du kalte Füße hast, dann wärme ich sie auf“, verspricht der 29-Jährige in Schweigen ist Silber, dem ersten Lied dieses Albums. „Ich will nur, dass du weißt: Ich hab dich immer noch lieb“, lautet eine ebenso unschwer zu verstehende Zeile in Ich will nur, das den Abschluss von Projekt Seerosenteich bildet.
Doch wenn Poisel diese Zeilen singt, dann entwickeln sie eine ganz andere Wirkung, als wenn man sie schwarz auf weiß liest. Vor allem gilt das, wenn es um die Liebe geht – und der Songwriter ein ums andere Mal beweist, dass diese Lieder für ihn zugleich Therapie, Tagebuch und Trostpflaster sind. „Schäm dich was, dass du dich immer noch in meine Lieder schleichst / ich hab versucht mir einzureden, dass du ja eigentlich gar nicht so schön bist / dass du bescheuert bist und nichts verstehst, dass wir nicht füreinander bestimmt sind“, gesteht er in Mit jedem deiner Fehler, um dann doch zu kapitulieren: „Mit jedem deiner Fehler / lieb’ ich dich mehr.“ So intensiv, waidwund und bereit, sich voll und ganz auszuliefern, hat seit Clowns und Helden vor 25 Jahren niemand mehr die Botschaft „Ich liebe dich“ rübergebracht.
Zu Klavier, Streichern und ein bisschen Coldplay-Sound am Ende wird Wie soll ein Mensch das ertragen vorgetragen. „Wie soll ein Mensch das ertragen / dich alle Tage zu sehen / ohne es einmal zu wagen / dir in die Augen zu sehen / Könnt’ ich einen einzigen Tag nur / in meinem Leben dir gefallen / um dann ein einziges Mal nur / in deine Arme zu fallen“, heißt der herrliche Wunschtraum. “Kitschig“ sagen dazu nur die Menschen, die das Wort „ergreifend“ nicht kennen.
Poisel zeigt sich feinfühlig, unsicher, suchend. Das gilt nicht nur für seine Texte, sondern auch für das Konzept hinter Projekt Seerosenteich. Schon der Titel deutet auf den Ansatz hin, einen Gang runter zu schalten. “Der Song ist ein Außenseiter, aber auch ein kleiner Schatz”, sagt Philipp Poisel über Seerosenteich, das Stück vom Debütalbum, das nun der Quasi-Titelsong ist. “Seerosenteich ist ein bisschen ins Hintertreffen geraten, weil wir zuletzt oft auf großen Bühnen gespielt haben. Da ging es meist darum, laut zu sein und möglichst viel Energie zu übertragen.”
Dem wollte der 29-Jährige nun so etwas wie eine Neubesinnung entgegensetzen. Nachdem er selbst vom jüngsten Erfolg überrumpelt wurde, wollte der Sänger das Gefühl seiner Anfangstage auffrischen, mit kleinen Shows und viel Handarbeit. Er hat auch der jeweiligen Ursprungsidee seiner Songs nachgespürt: Wofür stehen sie? Was ist das beste Klanggewand dafür? Fast alle Lieder wurden für Projekt Seerosenteich neu arrangiert.
Das Ergebnis war eine ausverkaufte Tournee, die für jedes Lied ein eigenes Bühnenbild (alles Handarbeit!) zu bieten hatte, in deren Umbaupausen Zirkuskünstler auftraten und bei der sich Philipp Poisel von einem Streichquartett begleiten ließ. Eine „zauberhafte Konzertreise“ (Hamburger Morgenpost) wurde da geboten, „drei Stunden Gänsehaut-Gefühl“ (Schwäbische Post) mit „atemberaubender Intensität“ (Kölnische Rundschau). Zum Finale der Tour gab es zwei Sonderkonzerte im Zirkus Krone in München, die nun als Live-CD veröffentlich werden. Zudem gibt es das Projekt Seerosenteich auch als Premium-Version mit einem Buch und als Deluxe-2-CD-Version mit 19 Liedern und drei Videos.
Die überarbeiteten Arrangements lassen viele der Lieder tatsächlich in neuem Licht erscheinen. Im Garten von Gettis fährt einen Chor auf, der sich in so etwas wie Stammesgesang versucht, auch die Percussions sorgen für indianisches Flair. Seerosenteich, nur mit Gitarre und Klavier, lässt mit seinem nuschelnd-nöligen Gesang und der maritimen Thematik an Herbert Grönemeyer denken, bei dessen Plattenfirma Philipp Poisel unter Vertrag steht. Und wenn am Ende von Als gäb’s kein Morgen mehr die Fans lauthals mitsingen, dann kommt trotz des intimen Rahmens doch noch Stadionatmosphäre auf.
Auch Eiserner Steg zählt zu den Höhepunkten. „Ich will dich einmal noch lieben / wie beim allerersten Mal / will dich einmal noch küssen / in deinen offenen Haaren / ich will einmal noch schlafen / schlafen bei dir / dir einmal noch nah sein / bevor ich dich für immer verlier’“, singt Poisel. Es ist eine Thematik, die schon oft aufgegriffen wurde, von Phil Collins (One More Night) oder von Tom Petty (One More Day, One More Night). Aber was Poisel daraus macht, ist zum Heulen schön.
In solchen Momenten steckt eine Wohligkeit wie in den Liebesliedern von Wir Sind Helden, und dazu kommt bei Philipp Poisel oftmals gehobene (nicht: abgehobene) Weltbetrachtung wie bei Herbert Grönemeyer. Dieses Livealbum zeigt, noch mehr als seine bisherigen Werke, seine Stärke: Er ist ein Romantiker, sein Herz schlägt im Wolkenkuckucksheim. Und er singt doch mitten aus dem Leben.
Auch Mit jedem deiner Fehler fühlt Philipp Poisel im Video noch einmal neu auf den Grund:
httpv://www.youtube.com/watch?v=Bhib9QfeWwY
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