Künstler | Roxette |
Album | Charm School |
Label | Emi |
Erscheinungsjahr | 2011 |
Bewertung | **** |
Ein Radiotag ohne Roxette? Das war lange Zeit unvorstellbar. Per Gessle und Marie Fredriksson gehörten seit The Look 1989 zu den verlässlichsten Hitlieferanten der Welt. Allein It Must Have Been Love lief mehr als vier Millionen Mal im amerikanischen Radio – das bedeutet: fast 12.000 Tage am Stück immer nur ein Lied.
Doch nach dem Album Room Service (2001) und dem Gehirntumor von Sängerin Marie Fredriksson ein Jahr später wurde es deutlich ruhiger um Roxette. Nun sind sie zurück – und sehr gut in Form. Übermorgen erscheint Charm School, das eine beeindruckende Rückkehr eines der erfolgreichsten Pop-Duos aller Zeiten markiert. Es ist das erste Roxette-Studioalbum seit zehn Jahren. Doch um das Werk voll und ganz zu verstehen, muss man noch ein bisschen weiter zurückblicken.
Genauer gesagt: bis in den August 1991. Damals erschien The Big L., die dritte Single aus dem Erfolgsalbum Joyride. Roxette waren gerade auf ihrer ersten Welttournee und konnten sich mit einigem Recht als die größten Popstars ihrer Zeit fühlen. Von ihren ersten sieben Singles erreichten vier Platz 1 in den US-Charts, zwei weitere kamen auf Platz 2. Doch dann hatte ihre Plattenfirma in den USA finanzielle Probleme, der Vertrieb stockte – und die Erfolgsserie war dahin. Keine Roxette-Single erreichte jemals mehr die Top20 der US-Charts, und auch im Rest der Welt ging es ab Mitte der 1990er Jahre bergab.
Man kann das für Pech halten, mit dem üblichen Auf und Ab im Musikgeschäft erklären oder darauf verweisen, dass Roxette dank ihrer Radiotauglichkeit auch danach noch eine große Nummer blieben. Aber erst Charm School macht in vollem Umfang deutlich, wie sehr Per Gessle, der Kopf von Roxette, den einstigen Glanzzeiten immer hinterher getrauert hat.
Schließlich ist Gessle ein Mann, der nie etwas anderes sein wollte als Popstar. Als kleiner Junge in der schwedischen Provinz färbte er sich die Haare blond, um wie David Bowie auszusehen. Er genoss den riesigen Trubel um seine Band Gyllene Tider und musste später in seiner Karriere einen herben Dämpfer hinnehmen, als seine Versuche scheiterten, sich mit seriösen Solo-Platten als erwachsener schwedischer Songwriter zu etablieren.
Auch mit Roxette ließ Gessle nie einen Zweifel daran, dass er Anerkennung am ehesten dann empfindet, wenn sich seine Platten gut verkaufen. Roxette haben immer versucht, auf Trends aufzuspringen. Tourism (1992) schwamm auf der Unplugged-Welle mit, bei Sleeping In My Car (1994) kamen sie plötzlich im Grunge-Look daher, Stars (1999) war unerhört elektronisch.
Damit ist nun Schluss. Mit Charm School scheint sich Gessle endlich von der Idee verabschiedet zu haben, an den Mega-Erfolg von vor 20 Jahren anknüpfen zu wollen. Er scheint mit sich im Reinen – und er ist offensichtlich froh, dass es nach der schweren Krankheit von Marie Fredriksson überhaupt noch ein achtes Album des Duos aus Halmstad und bei der anstehenden Tour ein Wiedersehen mit den Fans geben darf. Roxette haben überlebt, und sie klingen wie wiederbelebt.
Bestes Beispiel dafür ist I’m Glad You Called. Nur eine akustische Gitarre und dezente Streicher begleiten hier die Stimmen von Marie Fredriksson und Per Gessle. Mehr braucht es auch nicht, um die Ballade zum Volltreffer zu machen: So reduziert und selbstbewusst hat man Roxette schon ewig nicht mehr gehört. Auch No One Makes It On Her Own verzichtet auf Bombast und klingt erfreulich organisch.
Dazu gibt es die bekannten Stärken von Roxette. Der Auftakt Way Out strotzt vor Optimismus und könnte auch nicht mehr plakativer werden, wenn die Kaiser Chiefs oder The Darkness noch mitmischen würden. After All ist ganz klassische Songwriting-Perfektion, wie sie Per sonst nur auf seinen Solo-Alben zu bieten hat. Die Single She’s Got Nothing On (But The Radio) vereint einen Disco-Beat und ein Killer-Riff mit der unwiderstehlichen Pop-Verliebtheit der Schweden.
An anderer Stelle klingen die Roxette von früher durch: Speak To Me entwickelt am Ende durch den tollen Gesang eine beachtliche Intensität und erinnert in der Strophe an What’s She Like. Der Rausschmeißer Sitting On Top Of The World ist ein erwachsen-nostalgisches Liebeslied wie einst I Was So Lucky, bekommt durch das Wissen um Maries schwere Krankheit aber noch eine ganz neue Tiefe. Und In My Own Way ist quasi eine Neuauflage von Crash! Boom! Bang!
Auch eine Tradition: Charm School ist kein rundum gelungenes Album. In der Mitte gibt es einen drei Lieder lang währenden Durchhänger. Only When I Dream hat ein tolles Break, ist insgesamt aber konfus. Auch der gezähmte Glamrock von Black Cadillac funktioniert nicht. Und Dream On klingt gar gefährlich nach Schunkeln, Fernsehgarten und Smokie.
Trotzdem lässt Charm School nur einen Schluss zu: Roxette sind nun ganz bei sich selbst, stolz auf ihre Geschichte, entspannt beim Blick in die Zukunft. Sie sind zu ihrer eigenen Revival-Band geworden. Und das ist als Kompliment gemeint.
Die erste Auflage von Charm School gibt es übrigens mit einer Bonus-CD, die Live-Versionen von einigen der größten Roxette-Hits enthält, aufgenommen im August und September 2010 in St. Petersburg, Halmstad und Stavanger. Auch darauf beweisen Per und Marie, wie schlüssig dieses Comeback ist. Dressed For Success steht am Anfang, bekommt einen quietschlebendigen Bass, zusätzliche Orgel-Power und ein überflüssiges Gitarrensolo am Ende verpasst (bei dem man aber immerhin nicht die hässlichen Hüte sehen muss, die Gitarrist Christoffer Lundquist so gerne auf der Bühne trägt) . Das klingt etwas unsauber – aber viel erfreulicher als eine klinische Version.
Auch danach geht nicht alles glatt. 7Twenty7 könnte etwas mehr Punch vertragen und fasert vor allem am Ende aus. Silver Blue hört noch immer ein bisschen den Songwriter aus der Provinz an, der es der großen Popwelt beweisen will, klingt aber trotz der plan- und lustlosen Drums viel beser als vor 25 Jahren. Und am Schluss gerät Church Of Your Heart ein bisschen zu luftig.
Doch davor gibt es ganz viele große Momente. Sleeping In My Car schießen Roxette einfach aus der Hüfte – und das ist genau die richtige Herangehensweise bei diesem Song. Wish I Could Fly ersetzt Keyboards durch einen herrlich weichen Gitarrensound und reduzierte Drums. Das Ergebnis ist nicht nur sexy, sondern auch beeindruckend gesungen. Auch in Perfect Day (mit Pedal-Steel-Guitar) hat Maries Stimme diese rührende Verletzlichkeit, was dem Lied noch ein bisschen mehr Erhabenheit verleiht.
Things Will Never Be The Same gibt es, wie bei allen Roxette-Konzerten, nur mit Gitarre und Gesang – besser kann man das Lied nicht machen. How Do You Do! löst bei den Fans eine fast kindische Freude aus. „Eine Million Ideen, alle in ein Lied gepresst“, hat Per diesen Song einmal treffend umschrieben. In der Live-Version bleiben von diesen ganzen Ideen fast nur noch zwei Akkorde übrig, aber How Do You Do! funktioniert trotzdem und geht dann nahtlos über in eine Performance von Dangerous, die mit viel Power tatsächlich fast ein bisschen gefährlich klingt.
Joyride ergibt sich komplett in sein Hymnen-Dasein, The Look wird zu Beginn mit Welcome To The Jungle vermählt und mündet dann in ein Hey-Jude-Finale. Und dann ist da noch Listen To Your Heart, das in der bewegenden Live-Version von sehr liebevoller und kreativer Bass- und Gitarrenarbeit profitiert. Wenn sich Marie am Ende immer mehr in ihren Gesang hineinsteigert, dann versteht man: Diese Frau will singen. Sie muss. Besser als in diesen Momenten kann man die Rückkehr von Roxette gar nicht begründen.
Die Begeisterung der Fans scheint in zehn Jahren auch nicht gelitten zu haben. Danilo hat sich mit seinem Clip zu She’s Got Nothing On (But The Radio) jedenfalls große Mühe gegeben.
httpv://www.youtube.com/watch?v=3TsgOn61jU0
Eine leicht geänderte Version dieser Rezension gibt es auch bei news.de.
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