Roxette – „Travelling“

Künstler Roxette

So entspannt, spontan und organisch wie auf "Travelling" klangen Roxette schon lange nicht mehr.
So entspannt, spontan und organisch wie auf „Travelling“ klangen Roxette schon lange nicht mehr.
Album Travelling
Label Emi
Erscheinungsjahr 2012
Bewertung

Hilfe! Roxette haben ein Punkrock-Album gemacht! Kaum von den Folgen eines Gehirntumors genesen, entdeckt Sängerin Marie Fredriksson ihre Hardrock-Wurzeln wieder. Und Songschreiber Per Gessle mutet den Fans zum Schluss sogar eine brachiale Coverversion von The Prodigys Smack My Bitch Up zu.

Nein, das ist natürlich nur ein Scherz. Roxette machen auch auf Travelling, dem neunten Album ihrer Karriere, harmlose, eingängige, wunderbare Popsongs. Lieder, die inzwischen erwachsen klingen, aber die Teenagerzeit im Herzen tragen. Lieder, die sich zwischen den vielen Referenzpunkten im Lexikon der Popmusik austoben, und doch unverwechselbar Roxette sind. Lieder, die niemals platt oder eindimensional klingen, die man aber trotzdem spätestens beim dritten Hören schon mitsingen kann.

Manchmal gelingt das sogar schon beim ersten Hören. Denn Travelling enthält einige Songs, die bereits in anderen Varianten erschienen sind. So gibt es beispielsweise ganz am Ende des Albums eine himmlische Version von It Must Have Been Love, einem der größten Roxette-Hits, der hier 25 Jahre nach seinem Entstehen mit Flöten und Oboen noch ein Stück romantischer, majestätischer und herzerweichender wird. Die neue Version basiert auf einer Performance bei Night Of The Proms aus dem Jahr 2009, alles außer dem Arrangement von Clarence Öfwerman und Christoffer Lundqvist wurde für Travelling aber neu aufgenommen.

Auch Stars (eine Single von 1999), The Weight Of The World (bereits auf der RoxBox zu finden), See Me (eine B-Seite von Salvation im Jahr 1999) und She’s Got Nothing On (But The Radio), der Comeback-Hit aus dem vergangenen Jahr, dürften vielen Roxette-Fans schon bekannt sein. Sie erklingen hier in Neuinterpretationen, von einem Soundcheck in Dubai, als Remix oder als Live-Mitschnitt von einem Konzert in Rio de Janeiro.

She’s Got Nothing On bleibt aber der einzige Track, der sich so auch auf einem klassischen Live-Album finden könnte. „Wir wollten das Livematerial etwas eingrenzen, weil wir auf der Charm School-Bonus-CD, die in hohen Stückzahlen veröffentlicht wurde, ja bereits ziemliche viele Liveaufnahmen hatten. Aber dieser Song bildet die Ausnahme – es ist so großartig, ihn mit dieser Band zu spielen, und das Stück kommt immer so gut an, da musste man nicht lange drüber nachdenken, ob es aufs Album kommt“, erklärt Per.

Auch die anderen Neuauflagen sind keine schamlose Resteverwertung, sondern haben im Falle von Travelling Methode: Mit der Platte wollen Roxette die spezielle Atmosphäre und Energie während einer Welttournee einfangen. „Wenn man mehr als ein Jahr lang so eng zusammen ist, dann verändert es dich, deine Werte, deine Identität“, schreiben Marie und Per im Booklet der CD. Travelling soll diesen Prozess dokumentieren. So gibt es neue Lieder, die während der Tour geschrieben oder spontan in Hotelzimmern und verschiedenen Studios quer über den Globus aufgenommen wurden, Livemitschnitte und aufgepepptes Archivmaterial.

Genau dieses Prinzip wandten Per und Marie schon einmal an, bei Tourism (1992), auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs. Die Platte brachte mit How Do You Do!, Queen Of Rain oder Here Comes The Weekend einige der besten Roxette-Songs überhaupt hervor. Auch diesmal profitiert die Musik von der Spontaneität der Aufnahmen, dem guten Zusammenspiel der Band und der hörbaren Lust am Musizieren, die Roxette seit dem Bühnencomeback im Jahre 2009 gepackt hat. Das Duo begnügt sich nicht mit einem ordinären Live-Album. Roxette feiern stattdessen ihre eigene Existenz und, ganz wörtlich genommen, die Tatsache, dass sie noch am Leben sind: Travelling ist ein Life-Album.

Zum Auftakt vermischt Me & You & Terry & Julie (der letzte Teil des Titels ist eine Anspielung auf Waterloo Sunset von den Kinks) eine akustisch-psychedelische Strophe mit einem satten Soul-Refrain im Stile von Soul Deep. Zudem bricht Per Gessle hier mit der noch bis zu Charm School gültigen goldenen Regel, dass er das erste Lied auf einem Roxette-Album immer selbst singt, denn diesmal hat auch Marie Fredriksson einen großen Stimm-Anteil.

Es folgt das herrlich runde Lover Lover Lover mit weiteren schlau versteckten Zitaten. Die Atmosphäre erinnert an Tom Pettys Full Moon Fever-Zeiten, das „Ooh-Lalala“ im Hintergrund ist von den Beatles (You Won’t See Me, um genau zu sein), die Bläser im Refrain sind bei David Bowies Blue Jean entlehnt. „Es ist einer dieser Songs, wo die Strophe sich irgendwie zum Refrain entwickelt. In der Geschichte des Rock’N’Roll gibt es da einige Beispiele, etwa A Hard Day’s Night, wo sich wirklich alles um die Strophe dreht“, erklärt Per stolz.

Turn Of The Tide, das von den Sessions zu Have A Nice Day stammt, ist eine üppige und herrlich gesungene Ballade in bester Crash Boom Bang– oder Listen To Your Heart-Manier. Eigentlich als Titelsong für das letzte Album war der dann folgende Song gedacht: Die Worte „Charm School“ kommen jetzt aber nur noch in der Strophe vor. „Das war ein sehr zentrales Lied, als wir mit den Aufnahmen für das Album angefangen haben. Aber wir haben es dann im Studio irgendwie vermasselt. Es gibt zwei Versionen davon, und beide sind ziemlich übel“, hatte mir Per zur Veröffentlichung von Charm School im Interview verraten und schon damals versprochen: „Wir werden unser Glück mit diesem Lied nochmal probieren.“ Nun wurde der Track, um Verwirrung zu vermeiden, in Touched By The Hand Of God umbenannt, ist aber trotzdem ein feiner Pop-Feger und ein weiterer Beleg für gelungenes Zusammenspiel von Per und Maries Gesang.

In einem Hotelzimmer wurde Easy Way Out aufgenommen – das Lied, das vielleicht am besten die Idee hinter Travelling zum Ausdruck bringt. Enorm frisch, organisch und lebendig klingen diese 3:38 Minuten, beinahe so, als seien sie gar nicht für eine Veröffentlichung bestimmt, und doch unwiderstehlich gelungen. Auf Neil Youngs Heart Of Gold spielt der Text an – einen Song, den Roxette einst auch bei ihrem Auftritt für MTV Unplugged gespielt haben, dessen Herangehensweise hier (und später auch im sehr hübschen Angel Passing) wieder auflebt.

Gleich zweimal ist It’s Possible auf dem Album enthalten – einmal als Unplugged-Variante, einmal auf Hit getrimmt. Letztere Version ist denn auch die erste Single von Travelling, wirkt aber leider ein wenig gezwungen und zu sehr auf den durchschnittlichen Radiogeschmack zugeschnitten (dabei hatte Per im vergangenen Jahr im Interview noch behauptet: „Heute frage ich mich nicht mehr, ob ein Lied nun den Geschmack der Radiomacher trifft oder nicht“). Ein Ohrwurm ist das ohne Zweifel, aber mit der souveränen Hotelzimmer-Variante kann die Single bei weitem nicht konkurrieren.

Perfect Excuse war ursprünglich für Pers Soloalbum Party Crasher (2008) gedacht, wirkt aber tatsächlich wie gemacht für die Stimme von Marie. „Ich fand immer, es wäre perfekt für sie, und dass ich selbst dem Song nicht gerecht werden könnte. Das war ein bisschen frustrierend“, gesteht Per. Nun ist es eine herrliche Ballade geworden, die trotz der Streicher sehr reduziert bleibt – und den besten Text des Albums zu bieten hat. Die Andeutung eines Hauchs von Verletzlichkeit, die seit ihrer Krankheit in der Stimme von Marie Fredriksson liegt, gibt dem Lied einen zusätzlichen Reiz.

Excuse Me, Sir, Do You Want Me To Check On Your Wife? basiert auf einem banalen Dialog mit dem Kellner in einem Londoner Restaurant und breitet sich zu einem opulenten Pop-Mosaikstückchen aus, das sogar ein Stückchen Selbstironie enthält. Von einem „fake guitarist in an 80’s band“ ist da die Rede, und das ist wohl nach wie vor die Assoziation, die einige beim Namen „Per Gessle“ haben.

Aber Image, Erfolg, Kritiken – all das ist nach der Wiedergeburt von Roxette nicht mehr so wichtig für die Band. «Das neue Album ist entstanden, weil es entstehen konnte. Marie war wieder in der Lage, mit mir eine Platte zu machen. Und dann haben wir einfach die besten Lieder genommen, die wir hatten», hatte Per schon über Charm School gesagt, und dieser Ansatz, in dem eher Dankbarkeit als Ehrgeiz steckt, eher laissez-faire als Perfektionismus, wird nun mit Travelling konsequent weitergeführt. „Als die Arbeit an Charm School losging, war ich angespannt und nervös, weil es nach so vielen Jahren das erste Mal war, dass wir wieder etwas machten“, sagt Gessle. „Aber dieses Mal waren wir wie eine sehr eng zusammengeschweißte Einheit, und das hat die Arbeit an Travelling viel einfacher gemacht. Ich konnte es richtig genießen.“ Und das können nun auch die Fans.

Roxette sprechen über Travelling:

httpv://www.youtube.com/watch?v=DBitOIRM82M

Roxette bei MySpace.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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