Künstler | Selig | |
Album | Magma | |
Label | Universal | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
Spontaneität ist ein wichtiger Wert für Magma, das sechste Album von Selig. Es geht hier um Unbeschwertheit, Aktualität, Bauchgefühl. Es geht um den Moment – aber man muss auf die Geschichte von Selig eingehen, um zu erkennen, wie wenig selbstverständlich diese Ausrichtung für Jan Plewka, Christian Neander, Leo Schmidthals, Stephan »Stoppel« Eggert und Malte Neumann ist.
1994, im Jahr ihres Debütalbums, und später die ganzen Neunziger hindurch waren Selig „die einzige erstzunehmende deutschsprachige Alternative zu Grunge-Bands wie Nirvana und Pearl Jam“, wie ihre Plattenfirma ohne Übertreibung attestiert, und zugleich ein „Gegenpol zum Diskurspop der Hamburger Schule“. Sie waren der Rock-Entwurf, zu dem Kaputtsein gehörte und Sensibilität, aber auch die Lust auf Ruhm und Party („Jeder von uns hat eine große narzisstische Depression und die innere Leere geht nur weg, wenn es Applaus gibt, das muss man ja nicht verleugnen“, gestand Sänger Jan Plewka unlängst).
Nach dem Krach in der Band und der langen Pause zwischen 1999 und 2008 waren Selig seit dem Comeback-Album Und endlich unendlich und dem Nachfolger Von Ewigkeit zu Ewigkeit nach wie vor mitten im Prozess der Selbstfindung. Wer waren wir früher? Was hat diese Band mit uns gemacht? Wer sind wir jetzt? Was macht uns aus? Diese Fragen prägten das Koordinatensystem. „Wir waren zunächst froh, uns wiedergefunden zu haben und dieses Gefühl spiegeln die Songs der ersten beiden Reunion-Alben“, sagt Plewka. „Auf Magma hingegen richten wir den Blick nach außen. Die selige Innenpolitik ist intakt, also fragen wir uns nun: was passiert in der sonstigen Welt?“
Am deutlichsten wird das in Love & Peace, getrieben von einem monströsen Beat und verziert mit einem fiesen Gitarrensolo. Mit seiner Aufzählung einiger politischer und pokultureller Meilensteine der vergangenen Jahrzehnte wirkt das wie eine deutsche Antwort auf Billy Joels We Didn’t Start The Fire, und es ist tatsächlich so etwas wie ein politisches Lied. „Wenn du die Welt nicht verändern kannst, verändere dich selbst / Wenn du dich selbst nicht verändern kannst / verändere die Welt“, heißt es im Refrain, und das ist voll und ganz ernst gemeint, als Appell. „Griechenland, Syrien, alles rauscht so durch“, sagt Plewka. „Der vorherrschende Lifestyle ist heute Ichbezogenheit. Es zählen nur die eigene Familie und Karriere; den Geschehnissen in der Welt da draußen scheinen die meisten Leute relativ gleichgültig gegenüberzustehen“, klagt er an.
Das ist unbedingt ehrenwert, gerät im Ergebnis allerdings etwas plump. Love & Peace leidet auch darunter, dass der Refrain nicht allzu überzeugend ist. Aber, und das ist die gute Nachricht für Magma: Es ist das einzige der neuen Lieder, von dem sich das sagen lässt. Alle anderen strotzen vor Können, inspirierten Riffs, tollen Melodien und einer sehr organischen Atmosphäre. Magma ist ein sagenhaft souveränes Album, und wie stark diese Songs sind, wird vor allem live klar, wenn Selig sie mühelos neben die besten Momente ihrer Bandgeschichte stellen können. Selig anno 2013 sind selbstbewusst, ohne dies permanent demonstrieren zu müssen.
Die erste Single Alles auf einmal macht das wunderbar deutlich: Das Lied hat einen tollen Refrain, dessen Reiz gerade in der Gelassenheit liegt. Vom „Leben im Überflug“ singt Plewka darin – das könnte arrogant klingen, wirkt hier aber glaubwürdig und sogar sympathisch, weil man weiß, dass er dieses Leben gelebt und ihm jetzt abgeschworen hat. Auch Wenn ich an dich denke ist bärenstark und extrem eingängig: Es war eines der ersten neuen Stücke, die bei den Sessions 2011 in Berlin entstanden. Und auch dieses Lied hat so eine Zeile, die banal wirkt, aber durch Plewkas Stimme den nötigen Tiefgang bekommt: „Wenn ich an dich denke werde ich wahnsinnig / Doch nicht an dich denken, das kann ich nicht.“
Als nach den Berliner Sessions alle Stücke fix und fertig waren, ging die Arbeit an Magma in England weiter. Selig wollten diesmal nämlich gerne wieder auf einen externen Produzenten setzen. „Selbst zu produzieren ist wahnsinnig anstrengend“, erklärt Plewka, „weshalb wir nun unbedingt eine sechste Person als Therapeuten und Regisseur in Personalunion dabei haben wollten“. Die Wahl viel auf Steve Power, nach Arbeit etwa für Robbie Williams und Blur von Selig als „der Rick Rubin von Europa“ gepriesen. Sein Einfluss ist auf Sie scheint am deutlichsten zu hören. Man kann hier durchaus ein paar Blur-Gene erkennen (ungefähr zur Zeit von Modern Life Is Rubbish), vor allem in den Gitarrensounds.
Auch der Opener Ich lüge nie spielt mit britischen Referenzen, genauer gesagt: mit Madchester Rave. „In den Neunzigern waren wir riesengroße Stone-Roses-Fans und haben bei Songs wie Wenn ich wollte versucht, das ein bisschen zu imitieren“, sagt Plewka. „Und jetzt hatten wir Steve Power, der mit Blur gearbeitet hat, und konnten das endlich mal richtig machen, Lincolnshire Rave sozusagen.“ Der Track setzt auf ein Selig-Markenzeichen-Riff und einen Text voller provozierendem (natürlich auch augenzwinkerndem) Selbstbewusstsein.
Ein weiterer Höhepunkt ist Schwester Schwermut, ein sehr erwachsener, runder Song (übrigens inspiriert vom Lars-von-Trier-Film Melancholia). Der Titel ist dabei nicht bloß eine hübsche Alliteration, sondern transportiert die Aussage: Schwermut ist keine Gegnerin, und keine Geliebte, sondern etwas, das da ist (ohne dass man etwas dafür kann) und das einem immer nah sein wird, wie eine Schwester. „Ich schließe Frieden mit der Schwermut, indem ich sage: Ich verfluche dich nicht, sondern ich werde sogar auf dich warten, weil ich ohne dich kein Ganzes wäre“, erklärt Plewka.
Danke ist noch so ein Lied, das sehr entspannt, zufrieden und mit sich im Reinen ist, aber nicht satt. Die akustische Ballade Der Tag wird kommen steckt voller Fernweh und Sehnsucht, und eine zärtlichere Liebeserklärung an Hamburg hätten Kettcar auch nicht machen können. Das vielleicht romantischste Lied auf Magma kommt kurz vor Schluss: Bring mich hier raus erzählt von einer miesen Party, nervenden Leuten – und der Gewissheit, dass irgendwo anders, am besten in der Zweisamkeit, ein viel verheißungsvollerer Ort, eine Erlösung wartet. Glaubt man Jan Plewka, dann ist das programmatisch für das neue Selbstverständnis der Band: „Uns geht es um die Zwischenmenschlichkeit, die wir erfahren haben mit Selig. Wie schön das ist, in Liebe und Frieden nach so langer Zeit miteinander klarzukommen. Und das wollen wir auch nach außen transportieren.“
Raus aus dem Glamour, rein in den Wald – das ist wohl die Botschaft im Video zu Alles auf einmal:
httpv://www.youtube.com/watch?v=hLmy4UvCts4