Künstler*in | The Overtones | |
Album | Gambling Man | |
Label | Warner | |
Erscheinungsjahr | 2012 | |
Bewertung |
Es gibt Leute, denen es beim Fußball vor allem um die Tore geht. Solche Leute werden Fans des FC Bayern München. Es gibt Leute, die sich vom Lesen in erster Linie Bildung versprechen. Diese Leute sorgen dafür, dass ein Sachbuch über einen Firmenboss (die Steve-Jobs-Biografie von Walter Isaacson) in Deutschland fast mit der selben Startauflage auf den Markt kommt wie der meistverkaufte Roman des Jahres (Erlösung von Jussi Adler-Olsen; 250.000 zu 300.000 lauten die entsprechenden Zahlen). Und es gibt Leute, für die Musik in erster Linie schön klingen soll. Solche Leute hören The Overtones.
Es gibt viele Leute von dieser Sorte. Good Ol‘ Fashioned Love, das Debütalbum der Overtones, hat sich im vergangenen Jahr in Großbritannien mehr als 400.000 Mal verkauft. Jetzt kommt es unter dem Titel Gambling Man und ergänzt um vier Bonustracks auch in Deutschland auf den Markt. Die Musik der fünf jungen Männern aus England, Irland und Australien wird wirklich all jenen gefallen, die auf Gute-Laune-Wohlklang stehen. „It puts a smile on your face and a bit of sunshine into your day“, umschreibt Lachlan Chapman den Effekt der Platte – und da ist was dran.
Auf Gambling Man findet sich kein einziger schlechter Song, der Gesang ist gekonnt, die Stimmung heiter. Zudem schaffen es die Overtones, einigermaßen mühelos die Brücke von klassischen Vocal-Groups wie den Temptations zur Stimmakrobatik von Boybands wie Blue zu schlagen. Als den „heißesten UK-Import seit Take That“, preist sie die Plattenfirma dann auch prompt an.
Vor allem im Opener Second Last Chance ist dieses Element unverkennbar. Der Song ist durchaus eingängig, aber unfassbar clean. Man sieht geradezu das Zahnpastalächeln der Jungs vor sich, oder das Bühnenbild vom Disney-Club im Hintergrund. Dazu trägt auch bei, dass Mark Franks, Mike Crawshaw, Darren Everest, Timothy Matley und Lachlan Chapman (die vor den Overtones unter anderem als Tänzer, Model, Schauspieler und Musical-Darsteller ihr Geld verdienten) eine beinahe unverschämt gut aussehende Formation bilden.
Es gibt aber auch einige Songs, die nicht nur Teenager-Herzen höher schlagen lassen dürften. Der schmissige Titelsong hat reichlich Hitpotenzial und könnte bei Radiomachern mit einem Faible fürs Altmodische in die Fußstapfen von Everytime (das 2002 The Flames zum One-Hit-Wonder machte) treten. Für ein Lied wie Say What I Feel würden die nicht mehr ganz so jungen Jungs von NKOTBSB wohl all ihre Botox-Spritzen verkaufen. Für ihre feine Version von Beggin‘ von den Four Seasons haben die Overtones sogar Lob von Frankie Vallie höchstpersönlich bekommen. Und immer wieder verstehen sie es, ebenso wie ihre großen Vorbilder, die Bass-Stimme von Lachlan Chapman sehr effektvoll einzusetzen, wie im flotten Why Do Fools Fall in Love. Chapman stieß als letztes Mitglied zu den Overtones. „Lachie hatte die unglaublichste tiefe Stimme, die ich je gehört hatte“, berichtet Timothy Matley heute, „und mir wurde klar, dass wir unser fehlendes Puzzlestück gefunden hatten, wenn er auch nur annähernd so gut singen konnte, wie es seine Sprechstimme versprach.“
Die beiden letztgenannten Songs führen aber auch zum Grundproblem von Gambling Man: 14 der 20 Songs sind Coverversionen, von Cee-Lo Green über Billy Joel bis hin zu den Beatles. Viele davon bleiben nah am Original und verzichten auf eine kreative Eigeninterpretation (die überraschende und gelungene Version von Rihannas Only Girl ist die rühmliche Ausnahme). Das trägt einen gehörigen Teil dazu bei, dass diese Musik fast immer extrem oberflächlich bleibt. Was wollen die Overtones ihrem Publikum sagen? Was wollen sie zeigen – außer der Tatsache, dass sie singen können? Darauf gibt es keine Antwort.
Lieder wie ihre Version von Sh-Boom haben Musical-Niveau, anderes lässt eher an Castingshows oder Karaoke denken. Alles klingt nach Retorte – auch wenn sich die Overtones angeblich schon 2006 formiert und jahrelang vergeblich auf den großen Durchbruch gehofft haben. Der Gesang ist durchweg makellos, aber immer klingt es, als habe der Sänger gar keine persönliche Beziehung zu dem, was er da singt. Das ist das Grundübel von Gambling Man: Viel Kompetenz, aber keine Identität.
Ein bisschen wie die Klassiker – dieses Prinzip gilt bei den Overtones auch für das Video von Gambling Man:
httpv://www.youtube.com/watch?v=Oo8OgMzS3uU