Künstler | Rolling Stones | |
Album | Grrr | |
Label | Universal | |
Erscheinungsjahr | 2012 | |
Bewertung |
Er wäre begeistert von Computern und würde sicher elektronische Musik machen. Das antwortete Yoko Ono vor zwei Jahren, als sie aus Anlass des 70. Geburtstags von John Lennon gefragt wurde, welche Musik ihr 1980 erschossener Mann wohl heutzutage machen würde. Sean Lennon, der gemeinsame Sohn des Paares, hatte eine andere Prognose: „In seiner Plattensammlung war nur Rock’N’Roll. Keine einzige Platte, die nach dem zweiten Album von Elvis erschienen ist. Er würde definitiv immer noch Rock’N’Roll machen.“
Erstaunlicherweise hinterfragte keiner von beiden, ob John Lennon heute überhaupt noch Musik machen würde, wäre er noch am Leben. Das ist vor allem deshalb überraschend, weil 70-jährige Rockstars unvorstellbar waren, als Lennon seine Erfolge mit den Beatles feierte – und auch dann noch wie eine absurde Vorstellung wirken mussten, als er in New York erschossen wurde.
Rockmusik wurde von vielen in ihren Anfangstagen für eine kurzlebige Mode gehalten, und auch als die Beatles ebenso wie die Rolling Stones und viele andere längst das Gegenteil bewiesen hatten, war sie weiterhin der Ausdruck von Revolte, Sex, Kraft – nicht gerade Begriffe, die man mit Senioren assoziiert. Ein Mann im Rentenalter in engen Jeans, mit offenem Hemd und in Posen, als hätte er Fellatio höchstpersönlich erfunden, wäre für eine ziemlich lange Phase der Menschheitsgeschichte undenkbar gewesen. Time Is On My Side, sangen die Stones zwar schon 1964 und bewiesen damit quasi prophetische Qualitäten. Aber den Ausblick, auch im Jahr 2012 noch in einer Band zu sein und auf der Bühne zu stehen, hätten sie damals wohl selbst als komplett lächerlich empfunden.
Dass das heute anders ist, dafür haben sie ganz und gar selbst gesorgt. Im 50. Jahr ihres Bestehens gelten die Rolling Stones noch immer als die Verkörperung des Rock’N’Roll-Lebensstils, als unantastbar und unkaputtbar. Ihr Jubiläum feiern sie entsprechend gebührend: mit Grrr, das 50 Lieder aus ihrer Karriere auf drei CDs versammelt (außerdem gibt es Grrr auch als 4-CD-Super-Deluxe-Version mit 80 Tracks, als Fünffachvinyl mit 50 Tracks und als Limited-Super-Deluxe-Edition, die fünf CDs, reichlich 7“-Vinyl, ein Buch und ein Tourposter enthält).
Man kann sich natürlich fragen, wer nach Jump Back, Forty Licks, Hot Rocks oder Story Of The Stones noch eine Compilation mit den größten Hits der Rolling Stones braucht. In der Tat haben die Stones jetzt ziemlich genau doppelt so viele „Best Of“-Alben veröffentlicht wie die Beatles während ihres Bestehens überhaupt Studioalben zustande gebracht haben (24:12 lautet das Verhältnis nach meiner Zählung).
Aber immerhin gibt es diesmal mit dem 50. Jubiläum einen würdigen Anlass, und zudem wird niemand meckern, wenn Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ronnie Wood wieder einmal den Beweis für die Klasse und Einzigartigkeit ihrer Band antreten. Grrr vereint ihre Monsterhits, relevante Albumtracks und eher Ungewöhnliches (Waiting On A Friend, She Was Hot oder Doo Doo Doo Doo Doo hätten wohl nicht viele zu den 50 ultimativen Songs in der Karriere der Stones gezählt). Trotzdem gelingt es wunderbar, mit dieser Auswahl nachzuzeichnen, wie die Engländer von Epigonen zu Ikonen wurden. Am Beginn ihrer Karriere eiferten sie reichlich ihren US-Helden und versuchten sich gerne an Chuck-Berry-Covers wie der Debütsingle Come On, später produzierten sie massenweise Songs, die Hymnen und Klassiker geworden sind, auch ohne jemals ein Singlehit gewesen zu sein wie Sympathy For The Devil, Play With Fire, Wild Horses oder You Can’t Always Get What You Want.
Zudem gibt es zwei neuer Lieder, eingespielt mit Don Was in Paris, wo die Band erstmals seit den Aufnahmen für A Bigger Bang vor sieben Jahren wieder im Studio vereint war: Doom And Gloom ist ein erdiger und kraftvoller Rocker, dem man in keinem Moment anhört, dass hier knapp 70-Jährige am Werk sind. Das eher gebremste One More Shot ist fast noch erstaunlicher, denn da klingen die Rolling Stones plötzlich, als wären sie tief in ihrem Herzen lieber wieder eine Kneipenband als eine Rockinstitution, Stadionattraktion und die vierköpfige Verkörperung eines „Triumphzugs von Macht, Kraft, Perversion, Liebe, Sex, Drogen und Rock’N’Roll“, wie US-Journalist Edi Schwager die Band 1972 beschrieben hat.
Grrr hat noch zwei erstaunliche Effekte: Wenn man bedenkt, wie schnell die Rolling Stones das Image als Rabauken verpasst bekamen und wie dankbar sie es von Anfang an pflegten, dann klingen einige der frühesten Songs heute erstaunlich brav. Und letztlich zeigen diese drei CDs, worin die größte Leistung der Rolling Stones besteht, neben einem ganzen Sack voller fantastischer Songs: Sie sind der ultimative Beweis für die (nicht nur biologische) Überlebensfähigkeit des Rock’N’Roll.
Sie haben es wohl schon immer gewusst: Die Rolling Stones spielen Time Is On My Side live 1981, schon damals mit putzigen Rückblicken:
httpv://www.youtube.com/watch?v=6istBsZxABo
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