Künstler | Wir sind Helden | |
Album | Bring mich nach Hause | |
Label | Columbia | |
Erscheinungsjahr | 2010 | |
Bewertung |
Es gibt wohl nicht viel, was Fußballfans und Kunststudentinnen, FDP-Wähler und Attac-Anhänger, Sekretärinnen aus Stralsund und Vorstandschefs aus Stuttgart verbindet. Wir sind Helden sind dieser gemeinsame Nenner. Sie sind auch die einzige deutsche Popgruppe, die im vergangenen Jahrzehnt beinahe ekstatisches Kritikerlob mit durchweg beeindruckenden Verkaufszahlen verbinden konnte.
„Wir sind Helden“? Das war am Beginn ihrer Karriere eine dreiste Anmaßung. Inzwischen ist es längst eine Selbstverständlichkeit: ausverkaufte Tourneen, Nummer-1-Hits, treu ergebene Fans. Ab jetzt kann es für die Band eigentlich nur noch bergab gehen. Die gute Nachricht ist: Das ist okay so. Wir sind Helden wissen es. Sie wollen es sogar.
Nach dem forschen Debüt Die Reklamation (2003) und dem im Rausch des Aufstiegs entstandenen Nachfolger Von hier an blind (2005) hatten sich Wir sind Helden schon mit dem letzten Album Soundso (2007) ein wenig widerspenstig gezeigt. Da gab es schräge Elemente, böse Seitenhiebe und unterm Strich immer wieder den Versuch, sich gegen die Vereinnahmung zu wehren.
Bring mich nach Hause, das heute erscheinende vierte Album von Wir sind Helden, setzt diesen Weg fort. Nach rund 49 Minuten weiß man gar nicht, wen sie zuerst abschütteln wollen: die Leute, die von Wir sind Helden zu viel erwarten (Identifikation, Trost, Weltverbesserung) oder die Fans, die sich mit zu wenig begnügen würden (ein paar nette Liedchen, die man im Autoradio, beim Junggesellinnenabschied oder im Fitnessstudio hören kann)?
Für die politische Fraktion gibt es diesmal deutlich weniger Slogans. Kein Guten Tag, auch kein Die Konkurrenz. Drei Stücke, die man als Lieder zur Lage der Nation hätte interpretieren können, sind im letzten Moment rausgeflogen, erzählte mir Keyboarder Jean-Michel Tourette im Interview beim Highfield-Festival. „Alles ist alles“ und „Ein Kuss ist ein Kuss“ lauten die ebenso mysteriösen wie nichtssagenden Botschaften in den ersten beiden Liedern. „Es gibt nichts, was wir tun könnten / außer uns auszuruhen“ heißt es gar ganz zum Schluss der Platte.
Auch die Mitträller-Fraktion wird bei Bring mich nach Hause zunächst in die Röhre gucken. Fast nichts geht hier sofort ins Ohr wie einst Nur ein Wort, Aurelie oder Soundso. „Vielleicht ist dieses Album ein bisschen weniger ,Haha‘ und dafür ein wenig mehr ,Hmmm'“, beschreibt Sängerin Judith Holofernes die neue Grundstimmung ganz treffend.
Dazu trägt auch die Instrumentierung bei. Es gibt deutlich weniger Synthies, dafür mehr echte Instrumente. Wir sind Helden haben viel Neues gelernt, fleißig geprobt und dadurch wieder richtig Lust aufs Musizieren bekommen. Der englische Produzent Ian Davenport (Band of Skulls, Supergrass, Badly Drawn Boy) hat das Ergebnis wunderbar in Form gegossen. Noch nie klangen Wir sind Helden so ungekünstelt wie hier. Noch nie klangen sie auch so sehr wie eine lebendige, verschworene Einheit.
Das beste Beispiel dafür ist Dramatiker. Mit mediterranem Flair und einem Text voller albern-verspielter Wortakrobatik, wie es sie sonst nur im HipHop gibt (Dramatiker wird hier beispielsweise auf Statiker, Bar dicker, Haar schicker und Starkicker gereimt), zählt das Stück zwar zu den schwächsten auf Bring mich nach Hause. Trotzdem ist das Vergnügen unüberhörbar, das Judith Holofernes, Jean-Michel Tourette, Mark Tavassol und Pola Roy dabei hatten.
Auch die schlicht zu langsamen Kreise, das etwas zu beliebige Flucht in Ketten und die Seventies-Jam-Session Im Auge des Sturms überzeugen nicht völlig. Trotzdem ist Bring mich nach Hause ein sehr gelungenes Album. Die Ballade von Wolfgang und Brigitte ist ein betörend schönes Liebeslied über die 68er und die Folgen, über Naivität und Abgeklärtheit und über die Tatsache, dass Sex und Liebe eben nicht dasselbe sind. Der Kirmespop von 23.55: Alles auf Anfang hat genug Hitpotenzial, um junge Menschen tatsächlich zum Kauf eines Akkordeons bewegen zu können.
Die Träume anderer Leute, das mit dem Kontrast aus wuchtigem Schlagzeug und süßem Glockenspiel an die Shout Out Louds erinnert, ist allen Ernstes ein moderner Antwort-Song auf Schlaf, Kindchen, schlaf. Mit dem herzzerreißenden Meine Freundin war im Koma beweist Judith Holofernes, dass sie noch immer schlicht die beste deutsche Texterin ist. Sie braucht nur die Idee, ein exotisches Urlaubsziel durch das Wort „Koma“ zu ersetzen, um ein unfassbar weises und berührendes Lied über Ohnmacht, Reue und Glaube zu schreiben. Und das singt sie auch noch mit einer Stimme, die so unschuldig klingt, als ob sie nichts vom Bösen in der Welt weiß, und doch so traurig und zerbrechlich, als habe sie dem Teufel direkt in die Augen geschaut.
Schließlich ist da noch der wundervolle Titelsong, der im Zuhause keineswegs nur Geborgenheit sucht, sondern auch ein kleines bisschen Selbstzerstörung. Auch das zeigt: Ihre Bühnendekoration mag inzwischen aus Wohnzimmerlampen bestehen, die Band auf Tour von einer eigenen Nanny begleitet werden und Wir sind Helden auf dem Albumcover wie für ein Familienporträt posieren. Bring mich nach Hause ist trotzdem kein Rückzug ins Private im Sinne einer Nabelschau. Eher geht es darum, wieder einen Kontext zu finden, in dem man sich orientieren kann, in dem man sich auskennt, in dem man sich nicht auf ewig isoliert, aber eben auch mal die Tür zu machen kann. Wir sind Helden haben die Platte für niemand anders gemacht als für sich selbst. Es ist Die Reklamation 2.0 – diesmal nicht im Sinne von Wir kommen, um uns zu beschweren, sondern mit der Parole: Guten Tag, ich will meine Band zurück.
Schon wieder eine Wohnzimmer-Deko: Die Vorab-Single Alles in einer Akustik-Version:
httpv://www.youtube.com/watch?v=XQI_koV-pTw
2 Gedanken zu “Wir sind Helden – „Bring mich nach Hause“”