Künstler | Xiu Xiu |
Album | Always |
Label | Bella Union |
Erscheinungsjahr | 2012 |
Bewertung | **** |
Eine Tätowierung ziert das Cover dieser Platte. Da hat jemand den Namen der Band und den Namen des Albums auf seiner Haut verewigt: Xiu Xiu. Always. Das Booklet setzt dieses Schema fort. Die Worte „Xiu Xiu“ sind da als Narbe zu sehen, eingeritzt in einen Arm und als etwas, das wie Blut an einer Wand aussieht.
Passender könnte das Motiv nicht sein. Denn genauso konsequent und unbedingt wie ein Tattoo ist die Musik auf Always. Auch im zehnten Jahr ihres Bestehens kennen Jamie Stewart, Angela Seo, Bettina Escauriza, Marc Riordan und Devin Hoff, der wieder zu Xiu Xiu zurückgekehrt ist, nur eine Form des Daseins: den permanenten Ausnahmezustand.
Die Musik der Kalifornier gleicht einer Achterbahnfahrt, und Sänger Jamie Stewart packt in seinen Texten wieder einmal hoch provokante Themen an. Ein Track, der zeigt, wie Bloc Party klingen würden, wenn sie ihre Rock-Wurzeln endgültig kappen würden, ist nach Gul Mudin benannt – einem afghanischen Jungen, der von US-Soldaten ermordet wurde. Factory Girl, das zu Beginn nur mit E-Gitarre auskommt und trotzdem futuristisch klingt, thematisiert die deprimierenden Lebensumstände von chinesischen Gastarbeiterinnen, I Luv Abortion macht aus eine Geschichte über eine Teenager-Schwangerschaft ein abstraktes Audio-Abenteuer.
Selbst, wenn scheinbar Banales aufgegriffen wird, dann hat das bei Xiu Xiu einen doppelten Boden. „If you are wasting your life / Say ‘Hi’ / If you are alone tonight / Say ‘Hi’“, singt Stewart im Opener Hi. Er klingt dabei wie ein komplett verängstigter David Byrne, der ein Lied von Hercules & Love Affair anstimmt. Der Track wird gleichzeitig klaustrophobisch und einladend.
Dieser Kontrast von durchaus Massenkompatiblem (Beats und Melodien) und einem Höchstmaß an Experimentierfreude (beispielsweise im hysterischen Chimney’s Afire ist es unmöglich auszumachen, welche Geräusche da alle erklingen) durchzieht das ganze Album. Man hört jedem Stück auf Always an, wie konstruiert und fragmentiert diese Musik ist, trotzdem ist das Album eine Einheit. Stewart gibt dazu den verführerischen, verlorenen Schamanen. Joey’s Song wirkt, als mache sich Paul Smith (Maximo Park) an Erasure ran. Beauty Towne ist nichts weniger als eine Techno-Operette. Honey Suckle, ein Duett mit Angela Seo, wird famos leicht, im irren Smear The Queen klingt diese Konstellation plötzlich wie ein Kampf zwischen Kate Bush und einer Androiden-Armee.
The Oldness ist im gleichen Maße anziehend wie erschreckend. Fast geisterhaft wirkt dieser Track, zugleich durchsetzt mit ganz viel schmerzhaft erfahrener Realität. “Horror and beauty are the same; love and hate are the same, the tireless dread of our own lives and of living can be embraced with the same fervency as what we find beautiful”, lautet die Philosophie dahinter, erklärt Jamie Stewart.
Zum Abschluss von Always gibt es die Black Drum Machine, erst mit Streichern, dann mit der Beteuerung „I’m sorry, I’m sorry, I’m sorry, I’m sorry“, schließlich mit einem Klanginferno. Das könnte Björk auch nicht verrückter, rigoroser oder aufregender hinbekommen. Jamie Stewart singt mit einer Intensität, als sitze er am Sterbebett seines einzigen Kindes, oder als sei er gerade zurückgekehrt vom grausamsten Schlachtfeld der Welt.
Xiu Xiu sind auch im Jahr 2012 so kreativ und intensiv, dass man Always ein Erlebnis nennen muss. In der aktuellen Musikszene fühlt sich diese Platte so unwiderstehlich, wirkungsvoll und notwendig an wie die legendäre Adrenalin-Spritze in Pulp Fiction.
Verstörend – das gilt bei Xiu Xiu auch für das Video von Hi:
httpv://www.youtube.com/watch?v=zIbM8jx8cGE
2 Gedanken zu “Hingehört: Xiu Xiu – „Always“”