Künstler*in | Hot Chip | |
Album | Freakout/Release | |
Label | Domino | |
Erscheinungsjahr | 2022 | |
Bewertung | Foto oben: (C) Domino / Mathilda Hill Jenkins |
Mehr als 20 Jahre, acht Alben, Nominierungen für den Grammy, Ivor-Novello-Award, Mercury Prize oder Q Award. Es gibt wenige Acts, die mit Tanzmusik eine solche Karriere vorweisen können. Wie Hot Chip das geschafft haben, zeigt Freakout/Release einmal mehr sehr eindrucksvoll: Der Sound von Alexis Taylor, Joe Goddard, Felix Martin, Alexander Doyle und Owen Clarke ist fast immer hochgradig tanzbar. Aber er ist viel mehr als „Dance“. Ihre Stücke sind Pop, manchmal sogar mehr als das.
Drei Gründe für diese Meisterleistung fallen beim selbst produzierten Freakout/Release besonders auf. Erstens die Leidenschaft, die Hot Chip noch immer für ihr Metier haben. „Music used to be escacpe, now I can’t escape it“, lautet die erste Zeile im Titelsong. Die Kunst, die einst magisch und begehrt war, ist jetzt also nervig und im Überfluss vorhanden, und das schmerzt echte Musikfans natürlich zutiefst. So reagieren darauf (mit etwas Unterstützung von Soulwax aus Belgien) mit einer Klangpalette, die vom Vocoder-Effekt über ein Bass-Solo bis zu versteckten Geigen reicht. Wie sehr sie die Spielregeln und die Historie ihrer Kunst verinnerlicht haben, zeigen beispielsweise auch die Single Broken, die zugleich klassisch etwa im Stile der Pet Shop Boys und hoch modern wirkt, oder Guilty, das mit seiner plakativen Eighties-Vorliebe und seinem Hauch von Sleaze gut zu Alex Cameron passen würde.
Zweitens hat das Quintett aus London unverkennbar neue Inspiration gefunden. Das liegt zum einen daran, dass Gitarrist Al Doyle nach Abschluss der Tour zum Vorgänger A Bath Full Of Ecstasy (2019) das neue Studio der Band namens „Relax And Enjoy“ fertig eingerichtet hat, wo es dann nach dem Lockdown sofort und mit viel Tatendrang wieder losging. „Beim Bau des Studios hatte ich im Hinterkopf, dass dies ein perfekter Ort sein soll, um Hot Chip-Tracks aufzunehmen“, sagt Doyle. Und Alexis Taylor schwärmt: „Wir trafen uns in einem brandneuen Raum, um brandneue Musik zu machen. Bessere Voraussetzungen kann es gar nicht geben.“
Wie unbedingt die Band die Möglichkeiten ausreizen wollte, die sich dort finden, kann man beispielsweise zum Auftakt dieses Albums in Down hören: Das Stück beginnt mit Sample aus More Than Enough von der Universal Togetherness Band (Helden des Underground-Funk in den frühen Eighties), danach ereignet sich nicht weniger als eine Explosion an Energie und Spielfreude. Auch Eleanor ist sagenhaft frisch und leichtfüßig. Miss The Bliss überrascht zwischendurch mit Kirchenorgel und Chorgesang, der Album-Schlusspunkt Out Of My Depth ist im Prinzip eine Klavier- und Streicherballade, die sich dann immer weiter aufschwingt und dabei nicht nur viel Schönheit offenbart, sondern auch Drive entwickelt.
Der dritte Faktor für die erstaunliche Haltbarkeit dieser Band ist besonders überraschend: die Texte. Joe Goddard schafft es auch hier wieder, die sonst so oberflächlichen Standards seines Genres zu übertreffen. In Hard To Be Funky (feat. Lou Hayter) heißt es beispielsweise „Well funky is a funny word / and I don’t know just what it means / but I know that it means the world to you and me“, und auch im Sound dieses Songs schaffen es Hot Chip, Dancemusic erstaunlich ernst und bedeutend klingen zu lassen. Noch mehr gilt das, wenn es inhaltlich um mehr als ums Hüftewackeln und Füßebewegen geht. „Wir leben in einer Zeit, in der man den Eindruck bekommt, dass viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen die Kontrolle über ihre Leben verlieren“, sagt Goddard. „Diese Düsternis findet sich in den Lyrics vieler Tracks wieder.“
Not Alone schenkt zart und zurückhaltend Zuspruch, Time bietet unter anderem die wunderbaren Verse „We’re out of luck / but just in time / (…) We’re out of time / but still in luck“, die Musik dazu ist geheimnisvoll, geht aber trotzdem nach vorne. Besonders ambitioniert und besonders gelungen ist The Evil That Men Do mit dem kanadischen Rapper Cadence Weapon. Es geht um Rassismus, Sexismus und Gewalt gegen Frauen. Obwohl klar ist, wie verwerflich diese Dinge sind, wird im Text nicht vom hohen Ross herab gepredigt, vielmehr tastet sich der Song (auch musikalisch) an diese Themen heran und zeigt zudem überdeutlich, wie viel in diesen Debatten brodelt.
Was auf Freakout/Release fehlt, ist ein Standout-Track, der sofort umhaut, auch in ein paar Jahren noch die Tanzflächen füllen wird, oder dieser seit fast einem Vierteljahrhundert bestehenden Band noch einmal reichlich neue Fans bescheren dürfte. Zugleich zeigt die Platte, wie wenig Hot Chip anno 2022 auf so etwas aus sind – und wie wenig sie es nötig haben.