Künstler | IDER | |
Album | Shame | |
Label | IDER | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Im Seminar für „Popular Music“ an der Falmouth University haben sich Megan Markwick und Lily Somerville 2012 kennengelernt. Wir dürfen ziemlich sicher sein, dass zwei Themen damals noch nicht auf dem Lehrplan standen, die für sie in jüngster Zeit und im Vorfeld ihres morgen erscheinenden zweiten Albums besonders wichtig wurden: 1. Wie mache ich eine Platte inmitten einer Pandemie? 2. Wie gehe ich nach einem erfolgreichen und hochgelobten Debüt mit Druck und Erwartungshaltung um?
Für beides haben die beiden, die seit 2016 in London und als IDER aktiv sind, mit Shame sehr überzeugende Antworten gefunden. Fangen wir mit der COVID-19-Problematik an: Den Nachfolger für das 2019 veröffentlichte Emotional Education wollte das Duo eigentlich in Berlin schreiben und dabei zugleich tief eintauchen in den Hedonisms, die Vielschichtigkeit und den Dreck der deutschen Hauptstadt. Drei Wochen lang hat das auch blendend funktioniert. „Wir haben sehr viel neue Musik geschrieben und dieser chaotische Lifestyle völlig ohne Routinen war genau das, was wir uns erträumt hatten“, berichten IDER über den Aufenthalt. Doch dann kam Corona. „Wir mussten wie Thelma und Louise fliehen, denn die Ansage zu dieser Zeit lautete: Wenn ihr jetzt nicht nach London zurück kommt, werdet ihr es nie mehr nach Hause schaffen.“
In diesen turbulenten Umständen liegt auch schon der Schlüssel zur Antwort auf Frage 2. Denn das in Berlin entstandene Material komplettierten Megan Markwick und Lily Somerville in ihrem eigenen Heimstudio in ihrer gemeinsamen Wohnung in Bethnal Green. Das hatte nicht nur mit Corona zu tun, sondern vielmehr mit dem Unwohlsein, das ihnen die Anwesenheit in einem professionellen Tonstudio bereitete. „Man steht dort vor der Aufgabe, innerhalb weniger Tage die perfekte klangliche Identität für einen Song zu finden. Die Welt, in der er zuhause ist. Das ist ein enormer Druck. Es bleibt keine Zeit, um sich kreativ auszuprobieren“, sagt Marwick, und ihre Bandkollegin ergänzt: „Sobald du in einem wirklich teuren Studio sitzt, hörst du die beschissene Uhr ticken.“
Shame erscheint passend zu dieser Abkehr von klassischen Strukturen der Musikindustrie, auch nicht mehr bei Glassnote, ihrer bisherigen Plattenfirma, sondern auf ihrem eigenen Label. „Wir sind weiterhin sehr sorgsam mit unserer Musik, sogar mehr denn je. Aber wir nehmen nicht mehr alles so ernst, wir sind entspannter geworden“, sagt Marwick. Die Möglichkeit, selbst über Aufnahmen und Veröffentlichungen entscheiden zu können, habe das Duo im Hinblick auf seine Identität und sein Selbstvertrauen noch einmal enorm gestärkt: „Wir sagen, was wir sagen wollen. Und es klingt, wie wir es haben wollen.“
Das führt zum zentralen Thema von Shame: Es geht darum, sich selbst zu akzeptieren und den eigenen Weg zu gehen, ohne Kompromisse. Bored ist der Titel, in dem IDER ihren neuen Blick auf sich selbst als Band und als Künstlerinnen am deutlichsten zum Ausdruck bringen. „Jeder Act hat irgendwann in seiner Karriere von der Musikindustrie die Schnauze voll, schätze ich. Das liegt in der Natur der Sache. Dieser Song fasst unsere Frustrationen mit dieser Branche zusammen, die Künstler*innen einfach nicht wohlgesonnen ist“, sagt Markwick. Umgesetzt wird das mit einem vergleichsweise kraftvollen HipHop-Beat und einer E-Gitarre, die den Song ebenfalls etwas muskulöser macht. Bored bekommt so einen sehr unmittelbaren Appeal wie etwa die besten Momente der Sugababes.
Dieses Talent, Pop mit einer geradezu kühnen Offenheit in den Texten und erstaunlichem Einfallsreichtum in den Produktionen zu vereinen, findet sich in allen acht Tracks dieses Albums. Der Auftakt Cross Yourself scheint den Irgendwie-Latin-Unter-Wasser-Sound, den Smoke City für ihren 90er-Hit Underwater Love erfunden haben, mit der doppelbödigen Niedlichkeit von Lily Allen zu paaren, das Ergebnis wird flirty und tiefgründig, bis ganz am Ende des Songs der Harmoniegesang von Megan Markwick und Lily Somerville im Acappella-Gewand strahlen darf.
Die erste Zeile von cbb to b sad lautet „Well, I hate myself“, und auch später kontrastiert der Text („I’m so lonely next to your body“, „Maybe I’m just mad“) spektakulär mit der Leichtigkeit des vor allem von vielen Percussions geprägten Beats. waiting 17 03 besteht aus 162 vergleichsweise reduzierten Sekunden, die sich sehr reizvoll rund um den Gedanken „I’m not lonely / but why are you taking your time?“ ranken. Obsessed, bei dessen Produktion Kiran Kai unterstützt hat, thematisiert die Untauglichkeit von Monogamie mit einer jazzigen Gitarre im Hintergrund und dem Gefühl von Verwirrung, aber auch Lebendigkeit, das mit dem ewigen Rätselraten um Betrug, Bestimmung und Begehren einher geht.
Knocked Up ist einer von mehreren Songs, in denen der Begriff erwähnt wird, der diesem Album den Titel gegeben hat. „I light a candle for my own self / I light a candle for my own shame“, heißt es darin, auch das ist natürlich programmatisch angesichts der Entschlossenheit, die eigenen Fehltritte und Macken als das anerkennen zu können, was sie letztlich sind: normal. Das Lied ist mit einer schönen Klavierfigur, melancholischer Stimmung und verführerischem Sprechgesang eine „sehr, sehr verletzliche Umsetzung einer Menge jüngerer Scham und der Versuch, einen Sinn darin zu finden, woher diese Scham in der eigenen Kindheit kommt. Es geht um die Geschichte, die man sich selbst erzählt, und darum, sie ruhen zu lassen. Nicht, um sich davon zu distanzieren, sondern um zu akzeptieren, dass sie nicht mehr die Macht hat, die sie einst hatte“, erklärt Somerville.
Eindeutig geistesverwandt mit diesem Song ist der Album-Abschluss Midland’s Guilt: Die Uni, an der sich die beiden Künstlerinnen getroffen haben, steht zwar in Cornwall und IDER werden als Band aus London begriffen und vermarktet, doch das Zuhause von Somerville ist die 75.000-Einwohner-Stadt Tamworth in der Nähe von Birmingham und damit im wohl uncoolsten Teil des UK. “My Midland’s guilt is with me all the same, pray I see the day I make it home to die”, singt sie darin mit Auto-Tune-Stimme, begleitet von E-Piano und verfremdeten Streichern. Auch hier kann man eine Fragilität erleben, die mit sich im Reinen ist und letztlich als Stärke interpretiert wird. Das gilt auch für das geheimnisvolle und vielschichtige Embarrassed, ebenso wie für Shame und IDER insgesamt: Es sind unsere Schwächen, die uns menschlich machen.