Ilgen-Nur Power Nap Review Kritik

Ilgen-Nur – „Power Nap“

Künstler*in Ilgen-Nur

Ilgen-Nur Power Nap Review Kritik
„Power Nap“ nennt Ilgen-Nur ihr Debütalbum – und auch ihre eigene Plattenfirma.
Album Power Nap
Label Power Nap
Erscheinungsjahr 2019
Bewertung

Das muss man erst einmal bringen. Ihre erste EP namens No Emotions veröffentlichte Ilgen-Nur 2017 ausschließlich auf Kassette. Der Impact war trotz des ungewöhnlichen Formats so groß, dass ein Lied daraus, nämlich 17, in der Netflix-Serie How To Sell Drugs Online (Fast) eingesetzt wurde. Bei Spotify ist es bis heute ihr erfolgreichster Song. Aber auf dem Debütalbum lässt sie 17 einfach weg.

Das ist, um einen weiteren (ebenfalls nicht vertretenen) Titel von No Emotions zu zitieren, Cool – und zeigt das Selbstvertrauen, das die 1996 als Ilgen-Nur Borali geborene Künstlerin hat. Sie ist in Wendlingen im Schwarzwald aufgewachsen, lernte Klavier und Gitarre, aber an eine Laufbahn als Musikerin dachte sie in der schwäbischen Provinz lange Zeit nicht, weil sie dort nicht ernst genommen wurde. „Hätten mir nicht mit 12, 13 irgendwelche dummen Jungs das Gefühl gegeben, dass ich nichts auf dem Kasten habe, hätte ich schon vor vier, fünf Jahren, mit 18, mit 19, was rausgehauen. Ich habe so lange gebraucht, mein Selbstbewusstsein wieder aufzubauen“, sagt sie rückblickend.

Über Hamburg (wo sie studiert hat) ging es für sie mittlerweile nach Berlin weiter, und dort fanden sich auch reihenweise Menschen, die ihr Talent erkannt haben. Drangsal war ein früher und tatkräftiger Förderer, Tocotronic und Kele Okereke engagierten Ilgen-Nur für ihr Vorprogramm, auch internationale Festivals wie The Great Escape und Eurosonic luden sie ein. Auf Power Nap spielt nun beispielsweise Gitarrist Paul Pötsch (Trümmer) mit, produziert wurde das Debütalbum von Max Rieger (Die Nerven), der vor zwei Jahren auch schon die EP betreut hatte.

Schon ein flüchtiger Eindruck des Albums zeigt, dass Ilgen-Nur keineswegs größenwahnsinnig war, ihre beiden bisher erfolgreichsten Songs hier wegzulassen, denn sie hat genug sehr starkes neues Material. In My Head ist ein Highlight gleich zu Beginn, es erzählt rund um die Zeilen „I live my days in my head“ und „I might be the happiest when I’m on my own“ von den vielen unvermeidlichen Banalitäten des Alltags und dem ganz elementaren Weltschmerz. Inhaltlich ganz ähnlich gelagert, allerdings klanglich vom Klavier geprägt, ist Deep Thoughts („Alone with my deep thoughts in my room“), die Warnung am Anfang von You’re A Mess, das ein bisschen nach Wüste und Psychedelik klingt, lautet: „You break my heart / I’ll break your spine.“

„Als ich für das Artwork alle Texte in ein Dokument geschrieben habe, habe ich danach die Wortsuche drüber laufen lassen“, erzählt Ilgen-Nur. „Es sind etwa 1500 Wörter auf dem Album. Das Wort ,I´ habe ich allerdings ungefähr 300 Mal benutzt. Aber was soll ich machen? Es dreht sich eben um mein Leben.“ So erzählt Nothing Surprises Me von der Ohnmacht, seine Beziehungen zu den Daheimgebliebenen zu pflegen, während man auf Tour ist (erst vor zwei Jahren hat die Musikerin ihr erstes Konzert gespielt), der Sound dazu ist enorm cool, irgendwo zwischen Courtney Barnett und Elastica. New Song II erweist sich als eine Entschuldigung im wunderschönen Smiths-Gewand, bei Easy Way Out kann man nur denken: Selbstzweifel am Rande des Wahnsinns dürfen gerne immer so tanzbar daher kommen.

Soft Chair lässt viel Raum für ihre Stimme und beschreibt die Szene eines kurzen Glücks, das sich so vollkommen anfühlt, dass es gar nicht schlimm wäre, wenn das Leben danach zu Ende sein sollte. TV erinnert mit düsterem Eighties-Flair daran, dass das Leben draußen anfängt, außerhalb der eigenen vier Wände und jenseits der Pixel des Smartphone-Displays („Du kannst sein, was auch immer du willst. Du musst es nur tun. Und aufhören, dich ständig mit Anderen zu vergleichen“, sagt Ilgen-Nur dazu). Ganz am Ende singt sie dreimal das Wort „fun“, als wäre es die am wenigsten erstrebenswerte Sache der Welt. Silver Future, das nach einer LGBTQ-Kneipe in Berlin-Neukölln benannt ist, wird musikalisch besonders reizvoll und wäre sogar als Instrumental hoch spannend.

Clean Sheets stellt zwei wichtige Elemente von Power Nap noch einmal besonders heraus. Erstens ist da eine tiefe, existenzielle Verzweiflung, wenn die 23-Jährige „tell me how to feel / feel something real“ singt. Zweitens wird dieses Gefühl dennoch fast immer lakonisch mitgeteilt, mit erstaunlicher Distanz zu sich selbst. Aus diesem Widerspruch erwächst der Reiz dieser Musik. Sie klingt, als denke Ilgen-Nur: Egal, wie viel Mühe ich da rein stecke, es wird am Ende womöglich trotzdem bedeutungslos sein. Und es wirkt, als sei dieser Gedanke vielleicht nicht nur auf ihre Texte und Songs bezogen, sondern auf das Leben insgesamt.

Zur Touristin wird Ilgen-Nur im Video zu In My Head.

Ilgen-Nur bei Bandcamp.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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