Künstler*in | Imagine Dragons | |
Album | Mercury – Act 1 | |
Label | Interscope | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Man kann in Las Vegas den Eiffelturm sehen, die Pyramiden von Gizeh und den Canale Grande, die Freiheitsstatue ebenso wie Michelangelos monumentale David-Skulptur. Natürlich sind das alles nur Nachbildungen. Es ist deshalb fast ein bisschen zu naheliegend, dass Imagine Dragons aus dem Spielerparadies in der Wüste Nevadas kommen. Denn genauso wie diese vermeintlichen Sehenswürdigkeiten klingt ihre Musik. Sie ist ohne Originalität, Charme oder gar Authentizität.
Das Quartett um Sänger Dan Reynolds weiß natürlich um diese Vorwürfe. Trotz ihres Mega-Erfolgs (Grammys, Mehrfachplatin, mehr als 40 Millionen verkaufte Alben) haben sie weder bei Kritiker*innen noch bei anderen Musiker*innen sonderlich viel Anerkennung bekommen. Ihr fünftes Studioalbum ist ganz unverkennbar der Versuch, diese Credibility-Krise zu überwinden. Die Band geht dieses Vorhaben so an, wie alles seit ihrer Gründung im Jahr 2008: kalkuliert und über-offensichtlich.
Als Produzenten haben sie Kultfigur Rick Rubin engagiert. Das Cover sieht es, als habe es Banksy in politischer Gefangenschaft gestaltet. Der Titel Mercury – Act 1 (natürlich wird es also irgendwann in der Zukunft auch noch mindestens Act 2 geben) klingt nach Ambition und Konzeptalbum. Dazu passt Reynolds‘ Ankündigung: „Die ganze Platte handelt von Höhen und Tiefen, daher kommt auch der Name Mercury. Darum geht es auf dieser Platte wirklich, um den Umgang mit Trauer, den Umgang mit dem Verlust von Menschen, aber auch um das Feiern des Lebens.“ Erstmals soll es bei Imagine Dragons also in den Texten so etwas wie Tiefgang geben.
Gleich die ersten drei Songtitel verweisen tatsächlich auf dunkle Stunden und Sinnkrisen. Davon bleibt aber schon in diesen Songs jenseits der Oberfläche nicht viel übrig. My Life unterstreicht zunächst nur mit Gesang und Klavier seinen Bekenntnis-Charakter, im letzten Drittel erklingt dann aber doch der große Radio-Sound, den man von Hits wie Thunder oder Believer kennt. Die ersten Sekunden von Lonely klingen wie ein uralter Bluessong, den Alan Lomax im amerikanischen Süden ausgegraben hat, dann gesellt sich nach dem 25 Jahre alten Everlast-Prinzip ein gefälliger HipHop-Beat dazu. Der Gesang im folgenden Wrecked ist abwechselnd Folk-zerbrechlich und Nu-Rock-angeberisch, was kein bisschen zusammenpasst.
So geht es weiter auf Mercury – Act 1. Es gibt Prince ohne Inspiration und Sexyness (Monday), Muse ohne Glaubwürdigkeit (Dull Knives) oder einen Track wie Cutthroat, der auf vielfache Weise Aggressivität vorgaukelt und dabei in erster Linie verzweifelt wirkt. Zu hohlem Bombast wie Giants gesellen sich völlige Belanglosigkeiten wie Follow You. In #1 werden Selbstzweifel und auch Unverständnis von außen abgetan mit dem Bekenntnis „When all is said and done / I’m still my number one“. Ganz ähnlich ist der Inhalt von No Time For Toxic People, das plump in seiner Aussage bleibt, aber immerhin eine ansteckende Heiterkeit hat.
Ohnehin sind Imagine Dragons hier am stärksten, wenn sie entspannt und vergleichsweise zurückgenommenen bleiben. Das hübsche Easy Come Easy Go ist ein Beispiel dafür, das man sich von Eagle Eye Cherry vorstellen könnte, oder One Day, das zu Jack Johnson passen würde. Auch It’s Okay kann man in diese Reihe stellen: Das Lied hat einen sehr einnehmenden Refrain, den sie klingen lassen, als sei er bei einer Gartenparty aufgenommen worden, nicht in einem Millionen-Dollar-Studio mit einem Millionen-Dollar-Produzenten.
In Summe ist das sehr abwechslungsreich, aber praktisch ohne eigenen Charakter. Trotz aller Bemühungen um mehr künstlerische Substanz klingen Imagine Dragons hier, als hätten sie versucht, die Liste von Kritikpunkten zu vertonen, die sich in ihrem Wikipedia-Eintrag findet. Auch Mercury – Act 1 krankt an „repetitive lyrics, ‚overblown‘ arena rock production, overemphasis on reverberation effects, sticking to formulas, and genre-hopping“.