Interview mit 1000 Gram

1000 Gram Leipzig Konzert Interview
Moritz Lieberkühn wäre gerne ein Shouter, gesteht er. Foto: Off The Record PR

Das Konzert im Werk 2 in Leipzig ist der letzte Termin der Mai-Tournee von 1000 Gram. Es ist „bisher super gelaufen“ für die schwedisch-deutsche Band, sagt Sänger Moritz Lieberkühn, den ich gemeinsam mit den neuen Bandmitgliedern Paul, Fabian und Arne (der allerdings nichts sagt) vor der Show treffe. „Wenn man eine neue Platte dabei hat, ist es immer ein bisschen schöner“, sagt er. Wir sprechen also über die neue EP Grebbestad, über Missverständnisse in den deutsch-schwedischen Beziehungen und das Heulen zu den eigenen Songs.

Man soll ja mit einer einschmeichelnden Frage beginnen, deshalb würde ich gerne zuerst über deine Stimme reden, Moritz. Ich mag sie wirklich gerne. Wenn ich beispielsweise die Zeile „And if your soul is on fire / you start to swim“ in Out In An Instant höre, bin ich jedes Mal gebannt und gerührt.

Moritz Lieberkühn: Oh, danke schön!

Es gibt bestimmt auch Sänger, deren Stimme dasselbe mit dir macht, oder?

Moritz: Klar. Jeff Tweedy von Wilco fällt mir da ein. Auch ein Sänger von einer Emo-Hardcore-Band namens Waveless, die wahrscheinlich kaum jemand kennt. Er ist eher ein Shouter, aber er singt schön. Es gibt Hunderte von Sängern, die mich so berühren. Das liegt auch daran, dass ich sowieso eher sentimental bin. Wenn mich irgendetwas Gutes trifft, wenn es warm und echt und menschelnd wird, dann fange ich oft an zu heulen.

Es gibt noch ein zweites Gefühl, das sich bei mir einstellt, wenn ich diese Stelle höre: Ich werde neidisch. Eine Stimme, also der Klang, nicht das technische Können, ist ja ein bisschen wie die Augenfarbe oder die Schuhgröße – man hat sie einfach, und man kann nicht viel dafür. Ich denke dann: Das ist ganz schön ungerecht, dass dieser Typ so eine Stimme hat, und ich nicht. Siehst du das auch so? Empfindest du diese Stimme als Geschenk?

Moritz: Ich kenne das auch. Manchmal höre ich andere Sänger und denke: Fuck, diese Schweine! Wieso sind die so gut? Ich denke deshalb nicht: Wow, Gott hat mich mit einer Wahnsinns-Stimme gesegnet! Ich bin da sogar sehr selbstkritisch. Aber ich weiß, dass ich mein Leben lang immer gesungen habe. Ich habe zwei ältere Brüder, die mich schon als ganz kleinen Jungen mit viel Musik gefüttert haben. Ich habe damals schon Englisch gesungen, bevor ich die Sprache überhaupt konnte. Ich singe einfach sehr, sehr gerne.

Wie berücksichtigst du das beim Komponieren? Strebst du an, Lieder zu schreiben, die für jede Stimme funktionieren, nicht nur für deine eigene? Oder räumst du dem Gesang in den Songs extra eine möglichst bedeutende Position ein?

Moritz: Früher habe ich immer Gesang und Gitarre gleichzeitig geschrieben. Bei fast allen Songs, die ich für 1000 Gram mache, ist es aber anders: Ich nehme erst alle anderen Instrumente auf und der Gesang kommt dann ganz am Schluss dazu. Zum einen mache ich das, weil der Gesang nur ein Teil der melodischen Gruppe sein soll. Die Gitarren, die Basslines und der Gesang müssen ein Zusammenspiel haben. Zum anderen ist das dann wie ein Geschenk für mich, das ich für mich selbst verpackt habe: Ich freue mich während der Aufnahmen die ganze Zeit tierisch darauf, und ganz am Schluss darf ich dann endlich singen. Mein Anspruch ist, diese Freude, dieses Emotionale auch rüberzubringen. Bei jedem Song, der es auf ein Album von uns schafft, sollten mir selbst wenigstens einmal die Tränen in die Augen kommen.

Du hast 1000 Gram in Göteborg gegründet, mit schwedischen Bandkollegen und bist zudem mit einer Schwedin verheiratet. Deshalb will auch ich dich gerne als Experten für die schwedisch-deutschen Beziehungen befragen. Was ist denn das größte Missverständnis, das es in Deutschland über Schweden gibt?

Moritz: Oh, da könnte ich eine Menge drüber sagen!

Nur zu!

Moritz: Zunächst einmal ist die Sicht der Deutschen auf Schweden sehr positiv. Es ist so etwas wie ein Sehnsuchtsort, romantisch, mit viel Wald und viel Weite. Was man hier nicht so mitbekommt, ist die veränderte politische Situation in den letzten Jahren. Viele Deutsche halten Schweden für das perfekteste sozialdemokratische Land der Welt, für das Land, in dem alles funktioniert. Das mag für das Bildungssystem oder auch für das Gesundheitssystem noch gelten. Aber die rechten Parteien haben dort in den letzten zehn Jahren einen erschreckenden Weg durch die Instanzen geschafft. Die Gesellschaft zerfällt ein bisschen. Ich erlebe dort auch kaum eine Streitkultur oder einen Diskurs. Das könnte aber auch daran liegen, dass ich dort nur Jazzmusiker kenne, die traditionell mit Politik nicht so viel am Hut haben. (lacht)

Und die umgekehrte Perspektive? In welcher Hinsicht haben die Schweden ein falsches Bild von Deutschland?

Moritz: Viele meiner schwedischen Freunde kennen Deutsch nur über Pornos. Für viele Schweden ist Deutschland das Land der Pornos, zumindest bei meinen Freunden. Das andere Missverständnis ist, Deutsch sei eine sehr harte, aggressive und martialische Sprache – und so seien dann auch die Menschen hier. Die Schweden erkennen nicht so richtig, dass wir auch Romantiker sein können.

Jetzt habt ihr in Schweden die aktuelle EP gemacht und auch gleich nach dem Ort benannt, an dem sie entstanden ist: Grebbestad. War das von Anfang an als Dienstreise geplant oder wolltet ihr dort eigentlich Urlaub machen?

Moritz: Wir waren nur zu zweit dort, ich mit meiner Frau (Anna Roxenholt, die bei New Found Land musiziert und Chefin von Fixe Records ist). Man hätte dort sehr schön Urlaub machen können, das ist eine wundervolle Gegend und wir haben in einer kleinen Datsche mit Meerblick gewohnt. Geplant war aber, dass wir so etwas wie Outtakes von Dances machen. Ein paar der Lieder zu vollenden, die es nicht auf das Album geschafft haben, und die auf eine EP zu packen, damit wir nochmals auf Tour gehen können. Wir haben sogar darüber nachgedacht, nur noch EPs zu machen. Dann könnten wir öfter neue Sachen veröffentlichen und vor allem mehr live spielen. Das ist das, was wir eigentlich wollen. Ein Werk mit nur sechs Songs passt vielleicht auch besser in die digitale Zeit, denke ich. Aber der Nachteil ist, dass man mit einer EP nicht immer in die nötigen Schlaufen von Rezensionen und Kritiken reinkommt, deshalb ist es schwerer, damit ein richtiges Echo zu erzielen.

Dann sind doch neue Lieder entstanden. Wie kam das?

Moritz: Ich habe einfach angefangen zu schreiben, und dann purzelten die Lieder nur so heraus. Und neue Songs machen eben mehr Spaß als die alten.

1000 Gram Band
1000 Gram, hier noch in alter Besetzung, wurden in Göteborg gegründet. Foto: Off The Record PR/Nils Homann

Gibt es bei euch überhaupt so etwas wie eine Work-Life-Balance? Also Phasen, in denen ihr sagt: Okay, jetzt mal keine Musik, bitte.

Paul: Gute Frage, wir haben heute erst über dieses Problem geredet. Bei mir ist es so, dass ich mich fast zu privilegiert fühle, weil es diesen Unterschied für mich kaum gibt. Mit den Jungs hierher zu fahren und heute Abend auf der Bühne zu stehen – das fühlt sich wirklich nicht wie Arbeit an.

Moritz: Mir geht es da ähnlich. Natürlich arbeiten wir viel und tun viel für 1000 Gram, aber das passiert alles auch aus Lust heraus. Ich kam noch nie an einen Punkt, an dem ich dachte: Jetzt lasst mich mal mit diesem Band-Kram in Ruhe!

Noch eine letzte Frage, die indirekt mit Grebbestad zu tun hat: Gibt es jenseits dieses hübschen Küstenorts besondere Städte oder Gegenden, die euch extrem inspiriert haben?

Fabian: Für mich war das auf jeden Fall die ganze Natur rund um Mallorca. Da gibt es wirklich paradiesische Plätze mit 180-Grad-Meerblick, viele spannende, spirituelle Orte. Für mich war es dort manchmal, als hätte ich eine innere Erleuchtung. Ich mag es grundsätzlich, die Instrumente mitzunehmen und draußen in der Natur etwas zu schreiben.

Moritz: Für mich ist es auf jeden Fall Göteborg. Da habe ich die Band gegründet, da bin ich auf die Idee gekommen, auch mal laute Musik zu machen. Das war musikalisch und ästhetisch eine sehr wichtige Zeit für mich. Es war nicht immer einfach, weil es in Göteborg so viele richtig gute Musiker gibt, noch viel krasser als in Berlin. Es war am Anfang ein bisschen hart, sich da zurechtzufinden, aber das hat mir sehr in meiner künstlerischen Entwicklung geholfen. Ich habe gemerkt, was mich selbst ausmacht, was meine Stärken und Schwächen sind und dadurch mehr Vertrauen in meine eigene Kreativität gewonnen.

Ich bin schon fast am Schluss des Interviews angelangt, würde aber gerne noch über ein Zitat von Moritz sprechen. Du hast einmal gesagt, dass dich die Zeit besonders geprägt hat, in der man „noch Alternative gesagt hat und nicht Independent“, mit Bands wie Sonic Youth oder Dinosaur Jr. Trauerst du dieser Zeit, als es noch klar abgegrenzte musikalische Lager mit einem hohen Maß an Identifikation und Zusammenhalt gab, manchmal nach? Oder ist es jetzt schöner, mit „Anything goes“ und Indie-Fans, die genauso aussehen wie House-Fans oder Rap-Fans?

Moritz: Super Frage! Ich bin ja 1979 geboren, ich bin also leider etwas zu jung für die Zeit, die mir musikalisch am besten gefällt: 1988/89, als Hardcore und Punk wieder zueinander gefunden haben, mit Fugazi und so. Ich kam dafür fünf, sechs Jahre zu spät. Es gab da eine Band namens Into Another, die hatten einen Song (Running Into Walls) mit den Zeilen „We are the last of the loving ones / we are the last of the lucky ones / we are the last of the loved ones“ – das hat ganz gut mein Gefühl zum Ausdruck gebracht. Und man war damals wirklich enorm stolz auf Exklusivität: Wenn ich ein Tape hatte mit einer richtig guten neuen Band, dann habe ich selbst meinen besten Freunden nichts davon erzählt, weil ich die Band für mich behalten wollte.

Paul: Ich muss sagen: Diese Idee von all diesen verschachtelten Subkulturen klingt seltsam. Für mich ist das ganz weit weg.

Ihr sehnt euch also nicht nach einer Szene, mit eingefleischten Fans und 1000 Gram als Speerspitze?

Moritz: Ein bisschen Nostalgie gibt es da bei mir schon. Und man braucht eine Richtung oder ein Erkennungszeichen, wenn man eine Zielgruppe erreichen will. Wenn alle alles hören, wenn Indie alles von Hardcore bis Electro meinen kann, dann wird es eben schwierig. Wenn ich sage „Ich mache Gitarrenindie“ oder „Ich mache Gitarrenpop“, dann stelle ich mich in eine Reihe mit 100.000 anderen Bands, die aber zum großen Teil ganz anders klingen als 1000 Gram. Beim Gedanken an die verschworenen Szenen damals, kommt aber noch ein anderer Wunsch von mir zum Vorschein: Es wäre natürlich albern, wenn wir uns als fiese Tattoo-Typen vermarkten würden. Aber ich wäre schon immer liebend gerne ein Shouter und würde solche Emo-Hardcore-Songs machen. Ich hätte es auch gerne, wenn Leute bei unseren Konzerten stagediven würden. Aber meine Frau sagt immer: „Mo, you gotta face the facts: You’re not a punk rocker anymore.“ Und sie hat wohl Recht.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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