Für einen Kernphysiker ist Hans-Peter Dürr enorm bekannt. Das liegt nicht nur an seiner wissenschaftlichen Karriere als Heisenberg-Schüler und Leiter des Max-Planck-Instituts. Es liegt vor allem an seinem gesellschaftlichen und politischen Engagement.
Beim ersten Fuldaer Zukunftssalon setzte er sich für ein neues Erkennen der Welt, in der wir leben, und der Zusammenhänge, die in ihr wirken, ein. Im Interview äußert er sich zu konkreten Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels hinsichtlich Klimawandel, Terrorismus und US-Raketenabwehr.
Frage: In Ihrem Vortrag haben Sie kritisiert, dass die Menschen des 21. Jahrhunderts immer noch ein Weltbild aus dem 19. Jahrhundert haben. Können Sie dafür Beispiele nennen? Und wie optimistisch oder pessimistisch sind Sie für die Zukunft?
Dürr: Im 19. Jahrhundert waren wir fest überzeugt, dass die Welt wissbar ist. Dass man nur die Zusammenhänge erforschen und aufdecken muss, um dann die Welt in den Griff zu bekommen. Die festen Naturgesetze schienen es zu erlauben, Vorhersagen über die Zukunft zu treffen, wenn man nur die Ausgangssituation gut genug kannte. Und diese Ansicht vertreten auch heute noch viele: Wenn ein Problem auftritt, muss man nur den Hintergrund erkennen, und dann kann man es lösen. Dieser Ansatz hat die ganze Technik hervorgebracht.
Praktisch mit der Wende zum 20. Jahrhundert wurde diese Weltsicht durch einige Entdeckungen, etwa von Max Planck, erschüttert. Es kam heraus, dass die Grundlage dieser Welt eine andere ist als wir eigentlich angenommen haben. Das Fundament ist viel offener. Man kann es grob gesagt schon noch erklären, aber wenn man an die Feinheiten geht, funktioniert das nicht mehr. Diese Erkenntnis ist damals für viele erschreckend gewesen.
Auch heute sagen noch viele: So eine Welt akzeptieren wir nicht, denn es bedeutet, dass alle Anstrengungen, die wir machen, um die Welt zu verstehen und in den Griff zu bekommen, am Ende eigentlich nicht fruchten. Andere haben gesagt: Gott sei Dank ist die Welt nicht so klar vorherbestimmt. Denn das entspricht eher unserem Bild vom Menschen. Denn der Mensch ist ja echt kreativ. Er kann auf eine Weise agieren, die niemand erklären kann, er hat eine echte Freiheit. Wenn dies nun auch für die Welt als Ganzes gilt, muss der Mensch nicht mehr außerhalb der Natur stehen. Er ist nicht mehr Herr über die Natur, sondern ein Teil von ihr.
Dieses Umdenken hat im 20. Jahrhundert eingesetzt, aber wir können uns nicht daran gewöhnen. Denn wenn man das zugibt, sagt man ja: Die ganze Wissenschaft kann uns nicht weit genug bringen. Deshalb stecken wir in einer Ambivalenz: Wir machen uns die moderne Physik zu Nutze, aber wir verstehen sie nicht. Es gibt Dinge, die man nicht begreifen kann, aber man kann auf andere Weise ein Verhältnis zu ihnen entwickeln, das es erlaubt zu sagen: Ich verstehe es.
Frage: Wenn man sich diese Komplexität vor Augen hält, müsste man eigentlich sagen: Wir haben gar nichts im Griff. Was hat das für Folgen, beispielsweise in der Diskussion um den Klimawandel?
Dürr: Wir müssen da unterscheiden zwischen dem Unbelebten und dem Belebten. Die Schwierigkeit ist, dass sich das Belebte radikal anders verhält als das Unbelebte. Die Natur ist eben nicht einfach eine sehr komplizierte Maschine, sondern das Belebte ist im Prinzip offen. Das Lebendige hat eine Tendenz, dass es immer differenzierter wird und immer höhere Entwicklungsstufen hervorbringt. Deshalb ist unser Biosystem so empfindlich. Wir wundern uns, wenn wir kleine Veränderungen vornehmen und das plötzlich ganz große Effekte hervorruft.
CO2 ist so ein Beispiel: Kohlendioxyd bildet zwar nur ein Zehntausendstel der Atmosphäre, wenn man also ein bisschen mehr dazu gibt, indem man Kohle oder Gas verbrennt, sollte eigentlich nicht viel passieren. Doch plötzlich verändert sich unser Klima. Das ist wie bei dem Schmetterling, der mit seinem Flügelschlag einen Taifun auslösen kann. Man sieht daran: Man darf das Lebendige nicht so behandeln wie das Unlebendige. Wenn man auf die drohende Klimakatastrophe reagieren will, müssen wir endlich verstehen, dass wir hier auf der Erde nicht beliebig herumtoben dürfen. Wir müssen darauf achten, dass wir durch unsere Toberei nicht unsere natürlichen Lebensgrundlagen kaputtmachen.
Dabei geht es nicht nur darum, dass die Erde nur eine gewisse Anzahl Menschen verträgt. Es hängt auch davon ab, was diese Menschen tun. Ein Amerikaner lässt 110 Energiesklaven für sich arbeiten, in Mitteleuropa sind es 60, in China momentan noch 10, bei den Indern 6 und in Bangladesch nur einer. Woher der Energiesklave die Energie nimmt, ist dabei völlig unabhängig von der Ressource. Sobald mehr Energie verbraucht wird, als die Erde gewohnt ist – nämlich durch die tägliche Einstrahlung des Sonnenlichts – wird es gefährlich. Wir dürfen auf Dauer einfach nicht mehr Energie verbrauchen als die, die uns täglich zur Verfügung steht.
Wir müssen erkennen: Wir sind Teil eines komplexen Systems und wenn wir uns nicht vernünftig verhalten, zerstören wir unsere eigenen Lebensgrundlagen. Unsere momentane Lebensweise erinnert an ein Krebsgeschwür, das einfach bloß schnell wachsen will, aber dabei den Organismus zerstört, von dem es selbst abhängt. Auf diese Weise katapultiert sich der Mensch selbst aus der Evolution heraus.
Frage: Wie könnte dann die Welt in 200 oder 300 Jahren aussehen?
Dürr: Es kommt darauf an, wie optimistisch man ist. Viele sagen: Der Mensch ändert sich nicht, dann würde die Krebstheorie zum Zuge kommen. Ich habe aber immer noch den Eindruck, dass wir letzten Endes gemerkt haben, was das Problem ist. Instinktiv haben wir den Eindruck: So wie wir jetzt leben, das kann so eigentlich nicht weitergehen, aber eine Veränderung ist unrealistisch. Doch was ist die Realität? Der Realismus ist etwas, was wir aus der Wirklichkeit gemacht haben, indem wir nur das anerkennen, was wir rational verstehen. Alles andere nennen wir Träumerei.
Dabei reicht oftmals das Gefühl dafür, was in einer Situation angemessen oder unangemessen ist, oftmals viel tiefer in die Wirklichkeit hinein. Wenn wir dieses Gefühl einer direkten Erfahrung der Wirklichkeit verlieren sollten, dann fliegen wir aus der Evolution heraus. Der Mensch differenziert sich, er hat besondere Gaben und Stärken. Wenn er diese nur einsetzt, um besser dazustehen als der Rest, dann macht er genau das kaputt, was er zum langfristigen Überleben braucht. Denn eigentlich sind wir dazu veranlagt, die Fähigkeiten, die wir haben, auch der Gemeinschaft wieder zurückzugeben. Das ist keine Errungenschaft der Zivilisation, sondern ein natürliches Bedürfnis. Und es ist die Strategie, die seit dreieinhalb Milliarden Jahren auf der Erde funktioniert: Unterschiedlichkeit wird nicht geopfert, sondern es kommt zu einem Zusammenspiel. Der Mensch hat ein natürliches Bedürfnis zur Kooperation, aber unsere westliche Zivilisation unterdrückt das. An die Stelle der Zusammenarbeit ist der Wettbewerb getreten: Man kooperiert nur so lange mit anderen, wie man für sich selbst einen Vorteil daraus ziehen kann. Dabei heißt „Competition“ ursprünglich, zusammen nach einer Lösung zu suchen. Dieses kooperative Zusammenspiel hat den Menschen überhaupt erst hervorgebracht.
Freiheit und Demokratie sind deshalb gar keine schlechten Ziele. Denn Freiheit bedeutet Entwicklung der Fähigkeiten des Individuums. Und Demokratie bedeutet, dass man einen Modus findet, trotz der Verschiedenheit konstruktiv zusammenzuarbeiten. Aber nicht so, wie wir das derzeit machen. Stattdessen muss Demokratie dafür stehen, dass alle an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Um das zu erreichen, müssen wir Hierarchien abbauen, kleinräumig denken und mehr auf Subsidiarität setzen. Wir müssen bei allen Entscheidungen so weit wie möglich nach unten. Das politische System muss dabei Rahmenbedingungen vorgeben. Man kann das mit einem Spielfeld und Spielregeln vergleichen.
So ähnlich funktionieren ja auch ethische Vorgaben und Religionen: Sie alle besagen eigentlich bloß, dass die Spielregeln fair sein müssen und dass man darauf achten muss, dass das Spielfeld nicht zerstört wird. Diese Vorgaben spüren wir auch immer noch, und wenn wir dem Menschen mehr Mitspracherecht geben, werden sich diese Ziele auch durchsetzen lassen. Denn wir merken immer noch, zum Beispiel an den sehr ähnlichen Reaktionen bei großen Unglücken: Wir Menschen haben als Menschen etwas gemeinsam. Deshalb glaube ich, dass wir die Probleme meistern können.
Frage: Wenn dies die natürlich Lebensweise ist, warum hat sich die Menschheit, zumindest in der westlichen Welt, dann so weit davon entfernt?
Dürr: Da ist ganz viel strukturelle Gewalt im Hintergrund, die wir zum Teil selbst erzeugt haben. Es gibt immer jemanden, der sagt: Wenn Du nicht schnell genug bist oder nicht alles so machst, wie ich will, dann fliegst Du raus. Das reibt die Leute auf. Wir sind alle atemlos. Wir merken das aber erst, wenn wir Besucher aus anderen Kulturkreisen haben. Die sprechen dann von der Armut in der Ersten Welt. Sie sagen: Ihr lebt ja überhaupt gar nicht, ihr hetzt nur von einer Stelle zur anderen.
Dabei geht es doch darum, eine ganz enge Verbindung herzustellen zu allem, was um uns herum ist und dadurch unsere eigene Lebendigkeit zu spüren. Der Mensch braucht etwas, das wirklich lebensfüllend ist. Stattdessen stecken wir in einer Maschinerie, in einem Teufelskreis. Es gibt immer mehr Menschen, die immer wilder arbeiten und dabei gar nicht mehr zum Leben kommen. Die anderen, die außerhalb stehen, können nicht mehr leben, weil ihnen die Grundbedingungen fehlen – und am Ende kann keine der beiden Gruppen ein Leben führen, das wirklich lebenswert ist. Aber die Instrumente, die wir innerhalb dieses Kreises zur Verfügung haben, reichen nicht aus, um den Kreis zu verlassen. Die Frage lautet deshalb: Wie springen wir raus? Vielleicht braucht es dazu eine kleine Katastrophe, die uns nicht zerstört, aber aufweckt.
Frage: Sehen Sie noch andere Möglichkeiten?
Dürr: Ein Vorbild könnte der Zukunftsrat sein, wie wir ihn gerade in Hamburg gegründet haben und wie es ihn in der Schweiz schon seit 15 Jahren gibt. Denn ein Manko unserer jetzigen demokratischen Struktur ist: Die Zukunft sitzt nicht im Parlament. Aber bei der enormen Geschwindigkeit, in der heute Veränderungen vor sich gehen, müssen wir eine Möglichkeit finden, wie wir Entscheidungen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin überprüfen können. So wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet, ob ein Gesetz dem Grundgesetz entspricht, könnte ein Zukunftsrat ermitteln, was die langfristigen Folgen unserer Entscheidungen sind – und ob wie möglicherweise kommenden Generationen damit zu große Lasten aufbürden.
Frage: Wer soll in solch einem Zukunftsrat sitzen? Wer hat die Qualifikation und Legitimation, über langfristige Tragfähigkeit von Gesetzen zu entscheiden? Und ist es nicht eigentlich Aufgabe der Politik, diesen Aspekt auch ohne Zukunftsrat im Auge zu haben?
Dürr: In so einem Rat müssen nicht irgendwelche Weisen sitzen. Man kann ganz einfach anfangen, auf lokaler Ebene, und zunächst einmal die Entscheidungen kippen, die eklatant falsch sind. Zudem bietet uns das Internet heute die Möglichkeit, Probleme und Lösungsansätze aus ganz verschiedenen Teilen der Welt kennen zu lernen und uns dort wechselseitig zu unterstützen. Das wäre mein Ziel.
Man muss dazu auch gar nicht in Konkurrenz zur Politik kommen. Aber ein Zukunftsrat könnte ein Gegengewicht zur Lobby der Wirtschaft bilden. Denn die denkt immer nur kurzfristig. Das Finanzsystem tut so, als ob es wertschöpfend ist, dabei entstehen überhaupt keine Werte. Das System kann nicht funktionieren, denn es braucht Wachstum, um Stabilität zu erreichen. Es weiß aber, dass es gar kein unbegrenztes Wachstum geben kann. Das ist ein Schwindel. Und darin liegt die Ursache für viele Probleme. Was könnte ein Terrorist alleine schon ausrichten, wenn er nicht die Waffen hätte, die er auch aus unserem Land bekommt? Und wie sollte der Iran ein Atomprogramm starten, wenn ihm Siemens nicht das Kraftwerk verkauft hätte?
Frage: Die USA möchten gerade ein Raketenabwehrsystem in Osteuropa installieren, um gegen eventuelle Angriffe aus dem Iran gewappnet zu sein. Sehen Sie darin Parallelen zum SDI-System, gegen das Sie in den 1980er Jahren argumentiert haben?
Dürr: Da gibt es sehr viele Parallelen. Beides wird als Abwehrsystem dargestellt, ist aber eigentlich ein Angriffssystem. Außerdem besteht auch hier die Gefahr, dass sich die Gegner gegenseitig hochschaukeln, bis es schließlich zu einer Eskalation kommt. Und in beiden Fällen wird die Öffentlichkeit betrogen. Wenn man wüsste, worum es wirklich geht, würde niemals so viel Geld dafür bewilligt. Erst hieß es, die Raketen sollten einen Asteroiden abschießen, der die Erde bedroht, nun geht es plötzlich um das Atomprogramm des Iran. Aber kein Mensch wird in Polen ein System installieren, um eine iranische Rakete abzufangen.
Frage: Sie gelten als überzeugter Pazifist. Wie sehen Sie den Konflikt mit der islamischen Welt?
Dürr: Die andere Welt fühlt sich, als stehe sie mit dem Rücken zur Wand, und das macht sie wahnsinnig aggressiv. Aber solche Auseinandersetzungen darf es nicht mehr geben. Wir müssen den Krieg absolut ächten. Der Krieg muss weg. Er ist schlicht und ergreifend keine Möglichkeit, Konflikte zu lösen; er taugt nicht einmal als Drohung.
Statt sich als Gegner zu betrachten, als Kraft und Gegenkraft, müssen wir eine Balance suchen. Das würde bedeuten: Wie sollten Verteidigungsministerien abschaffen und stattdessen ein Ministerium für zivile Konfliktlösung schaffen. Die jungen Leute werden nicht mehr zum Wehrdienst eingezogen, sondern bekommen gelernt, wie man miteinander Konflikte behandeln kann, ohne sich gegenseitig totzuschlagen. Dabei könnte uns die Erfahrung der Frauen enorm helfen, denn das war immer ihre Stärke.
Frage: Ist das nicht utopisch?
Dürr: Was ich im Visier habe, ist keine Traumtänzerei. Wir müssen nur das nach außen bringen, was wirklich passiert. Mit dem Internet haben wir die Möglichkeit dazu. Und wir müssen auch von den Politikern etwas mehr Ehrlichkeit verlangen. Natürlich muss es Diplomatie und Mehrheiten geben, natürlich wirkt der Fraktionszwang. Aber sie sollten dennoch ihre persönliche Meinung transparent machen.
Als Direktor des Max-Planck-Instituts musste ich das auch machen: Ich habe Ansichten vertreten, die gut für das Institut waren. Aber daneben gab es immer auch meine private Meinung, die ich auch nie verleugnet habe. Ein Vorbild in diesem Punkt ist für mich Michail Gorbatschow. Er stand immer zu seinen Überzeugungen und hat damit ganz viel bewirkt. Ich habe ihn einmal gefragt, warum er so geworden ist, wie er geworden ist. Und er hat mir verraten: Dabei haben auch ganz viele Traumtänzer eine Rolle gespielt. Wissenschaftler und Schriftsteller und Ärzte. Gorbatschow hat irgendwann erkannt, dass ihre Ideen richtig sind, und er hatte die Macht, sie umzusetzen. Solche Erinnerungen zeigen mir: Man ist gar nicht so ohnmächtig.