Interview mit Leoniden

Leoniden Interview
Jakob und Lennart (vorne) sind ready fürs Picknick-Format. Foto: Joseph Strauch / Universal Music

Es ist das erste Interview seit mehr als einem Jahr, das Sänger Jakob Amr und Gitarrist Lennart Eicke von den Leoniden nicht per Video-Call geben, sondern von Angesicht zu Angesicht. Vor dem Picknick-Konzert in Leipzig gibt es viel zu erzählen: Am Tag darauf kommt die Single New ’68 heraus, die möglicherweise polarisieren wird, weil sie a) sehr poppig und b) sehr politisch ist, einschließlich Raum für Aktivistinnen im Video. Am 20. August folgt das (übrigens sehr großartige) Album Complex Happenings Reduced To A Simple Design mit satten 21 Tracks. Nicht zuletzt hofft die Band aus Kiel, bald wieder eine reguläre Tour absolvieren zu können. Außerdem reden wir über den Versuch, einen guten Protestsong zu schreiben, Kämpfe um den richtigen Vibe, ihre Judo-Mentalität und über Leipzig als das bessere St. Pauli.

Wer sich ein bisschen mit euch beschäftigt, merkt schnell: Nichts ist euch so wichtig wie Konzerte: Leoniden muss live. War es für euch besonders schwer, die lange Tourpause seit der ersten Corona-Welle zu überstehen?

Lennart: Es waren auf jeden Fall anderthalb harte Jahre. Als die Tour zum ersten Mal verschoben wurde, hatten wir noch auf den Festivalsommer gehofft, und danach auf die Tour im Herbst 2020. Erst Schritt für Schritt hat uns gedämmert, dass es wirklich so eine lange Pause wird. Wir haben uns im vergangenen Jahr trotzdem noch sehr bewusst und ziemlich stur gegen Ideen wie Picknick-Konzerte entschieden, weil wir uns das für Leoniden überhaupt nicht vorstellen konnten. Es gibt Bands, die sind dafür wie gemacht, aber wir hätten niemals unsere Indoor-Show in so einem Picknick-Kontext spielen können. Jetzt haben wir aber viel an unserer Show geschraubt und ein Format gefunden, das es sonst nicht gegeben hätte und das für uns richtig Bock macht. Dieses Jahr sind wir ready! Auch die Fans haben sich ja mittlerweile ein bisschen an dieses neue Setting gewöhnt. Uns war wichtig, wieder eine Möglichkeit zu bieten, gemeinsam etwas erleben zu können. Das ist ja durch Corona kaum möglich, und gerade unser junges Publikum hat da viel entbehren müssen. Es gibt ja Leute, die seit einem Jahr ihre Mitschüler nicht mehr gesehen haben. Oder die neu an der Uni sind und noch nie im Hörsaal waren, sondern alles bloß per Videokonferenz kennen. Als wir dann das erste Mal wieder auf der Bühne standen, war das eine krasse Erfahrung.

Jakob: Ich fand einen Unterschied besonders heftig: Wir wussten auf einer rationalen Ebene, warum so lange keine Konzerte stattfinden konnten, wir unterstützen auch die Corona-Maßnahmen und nehmen diese Pandemie sehr ernst. Emotional sind wir aber völlig unvorbereitet in die ersten Konzerte gegangen – und komplett überwältigt worden.

Seit Ende Juni seid ihr wieder fleißig im Live-Einsatz. Hat sich da schon wieder so etwas wie Routine eingestellt?

Jakob: Ja, das würde ich schon sagen. Es gibt aber auch eine neue Erfahrung: Wir sind zum ersten Mal mit einem Nightliner unterwegs. Das ist sehr praktisch, weil es Zeit spart und wir nicht mehr so früh losfahren müssen, um alles rechtzeitig für eine Show aufzubauen. Aber wenn da 15 Leute in einem Bus sind, riecht es eben auch nach Fuß. (lacht)

Lennart: Das ist ein bisschen wie Fahrradfahren. Wir waren wirklich unsicher, wie wir mit dem Neustart und dem veränderten Format klarkommen und wie das Publikum reagiert. Es ist schön, dass wir da so schnell wieder reingefunden haben.

Man kann das später am Abend schnell bestätigt finden: Leoniden haben eine sehr schöne Möglichkeit gefunden, ihre Live-Energie auch bei Tageslicht rüberzubringen, für Fans, die auf ihren Picknickdecken immerhin springen und tanzen dürfen. Auch der von Jakob im Interview beschriebene Effekt, dass durch den großen Abstand zwischen Bühne und letzter Reihe die Latenz größer wird und das synchrone Mitsingen deshalb schwierig ist, lässt sich auf dem Agra-Gelände nicht beobachten. Bei Kids und Sisters ist das Publikum ebenso dabei wie bei den bereits veröffentlichten neuen Songs wie L.O.V.E. oder Freaks. Und zwischendurch gibt es eine Einlage von Jakob, bei der er alleine am Rhodes-Piano ein Medley aus Coversongs von Seal, Oasis und Katy Perry spielt – so, wie er es während der Corona-Zeit für die Follower der Band bei Instagram getan hatte. Nicht zuletzt überrascht die Show mit einigen instrumentalen Einlagen, die von Latin bis Techno reichen, teilweise den Skits auf dem neuen Album entsprechen und dem Publikum (und der Band) wohl vor allem die lang ersehnte Möglichkeit geben sollen, mal wieder richtig abzuzappeln.

Jakob, du hast kürzlich gesagt, dass ein von außen gesetztes Limit, wie die Pandemie-Einschränkungen, immer Kreativitäts-fördernd ist. Sind die Picknick-Konzerte jetzt auch ein Beispiel dafür?

Jakob: Ja. Wir mussten neue Ideen entwickeln, und natürlich ist es aufregend, wenn wir jetzt erleben, was davon gut oder auch nicht so gut funktioniert.

Könnte es womöglich sogar sein, dass diese Erfahrung, mit neuen Arrangements oder anderer Dynamik der Songs, sich auch aufs nächste Album auswirkt?

Jakob: Das glaube ich nicht. Wir schreiben unsere Songs eigentlich immer mit dem Konzert-Gedanken im Hinterkopf. Wir wollen damit ein Gefühl und eine Energie transportieren, und es ist das Geilste, wenn das in einem dunklen Club funktioniert, und diese Energie dann von den Fans wieder zurückkommt. Das ist das Ideal. So schön es war, in den vergangenen Wochen wieder live zu spielen: Die Picknick-Konzerte sind hoffentlich eine Übergangslösung, um wieder zu diesem Ideal hinzukommen.

Für Complex Happenings Reduced To A Simple Design habt ihr erstmals mit Produzent Markus Ganter zusammengearbeitet, unterstützt von Magnus Wichmann aus Leipzig. Was verbindet ihr mit der Stadt?

Lennart: Leipzig ist toll! Wir leben ja alle immer noch in Kiel, was diverse Vor- und auch Nachteile hat. Letztlich würden wir nie sagen, dass eine bestimmte Stadt besser ist als eine andere. Aber ich weiß, dass es Leute in unserer Band gibt, die sich gut vorstellen könnten, hier auch zu leben. (Jakob hebt die Hand) Wir haben sehr viel für das neue Album hier aufgenommen.

Jakob: Für mich ist Leipzig ein bisschen so, wie St. Pauli immer sein will. Nicht zu groß, aber mit vielen Möglichkeiten, sich zu entfalten.

Und wie war die Zusammenarbeit mit den neuen Produzenten?

Jakob: Wir wollten eigentlich nur für einen Song ausprobieren, ob es passt. Das war dann alles super nett und wir hatten schnell das Gefühl, dass wir auch das Album zusammen machen wollen. Dabei hat es dann aber eine Weile gebraucht, bis sich alles eingespielt hat. Markus hatte eine sehr eigene Vorstellung davon, wie die Platte klingen sollte, und wir hatten auch eine konkrete Idee im Kopf. Das ist aufeinandergepralllt und dann haben wir das immer hin und her gespielt. Als Magnus dazu kam, ging das dann sogar im Dreieck. Dieser Prozess hat sich aber eindeutig gelohnt.

Ich finde, dass die neue Platte noch einmal vielschichtiger und komplexer ist, in gewisser Hinsicht auch noch größer klingt. Bei einem Song wie L.O.V.E. frage ich mich, wie ihr da sicherstellt, dass es kompakt und rund bleibt? Es gibt ja bestimmt für jeden Teil und jedes Instrument und jeden Effekt persönliche Fürsprecher in der Band. Der eine will den Chor haben, der andere findet die Streicher unverzichtbar, der dritte meint, die Gitarre müsse lauter sein. So etwas kann ja schnell überfrachtet und verfrickelt werden. Wer ist da der Aufpasser, um den richtigen „Vibe“ nicht zu verlieren?

Jakob: Gute Frage. Diese Tendenz ist wirklich da, weil wir in unseren Songs sehr viele Einflüsse und Elemente vereinen. Wir arbeiten auch gerne mit Bausteinen und Skizzen, die für sich entstanden sind und in unserem Ideen-Ordner in der Dropbox liegen, und klopfen ab, ob sie für einen bestimmten Song, ein Tempo oder eine Stimmung geeignet sind oder eben nicht. Ich denke, wir haben da mittlerweile ein Gespür dafür. Der Produzent ist jedenfalls nicht der Aufpasser. Da würden wir uns nicht reinreden lassen.

Lennart: Das ist ja ein kreativer Prozess der Entscheidungsfindung, und ich denke, dass wir uns da auch als Band weiterentwickelt haben. Mittlerweile sind unsere Demos schon ziemlich aufwendig, mit sehr vielen Spuren. Man weiß, wer welche Idee gut findet, und jeder macht den Mund auf, wenn er an einer Stelle kein gutes Gefühl hat. Wenn dann mehrere Leute protestieren, ist das ein ziemlich klares Zeichen, dass es ein Problem gibt. Wenn es nur eine Person ist, dann wird eben diskutiert und gekämpft. Das kann wirklich anstrengend sein, aber es bringt für uns die besten Ergebnisse. Bei L.O.V.E. war das besonders wichtig, weil es so ein Wegweiser für das ganze Album war. Wir haben mehr als 70 Mixes davon gemacht.

Jakob: Diese Detailversessenheit hat ja auch dazu geführt, dass wir diesmal ein Doppelalbum gemacht haben. Wir hatten die erste Hälfte schon Ende 2020 fertig, wollten aber zum einen keine Platte rausbringen, ohne Shows zu spielen, und hatten zum anderen noch ganz viele Ideen. Also haben wir weitergeschrieben und weitergearbeitet, und so ist es ein Doppelalbum geworden. Auch dabei war L.O.V.E. ganz zentral: Wären wir damit nicht so zufrieden gewesen, hätten wir uns vielleicht nicht getraut, einen Song wie Funeral oder auch Medicine auf die Platte zu packen. Aber so hatten wir einen guten Eckpfeiler, der uns auch gezeigt hat, was alles möglich ist.

Ihr habt gesagt, die neue Platte sein das bisher „heftigste und aufwendigste Projekt“ für Leoniden. Was muss passieren, damit ihr sagt: Der Aufwand hat sich gelohnt?

Lennart: Ich würde fast sagen: Es hat sich jetzt schon gelohnt. Uns ist auf jeden Fall nicht wichtig, dass wir hoch in die Charts einsteigen und auch nicht, dass wir irgendwann Headliner von Rock im Park werden. Wir müssen in Leipzig auch nicht die Red Bull Arena füllen. Uns reicht es, wenn wir wieder eine ausverkaufte Show im Conne Island spielen können und alle Leute Disappointing Life, L.O.V.E. und Paranoid mitsingen.

War die intensive Arbeit an Complex Happenings vielleicht auch eine Reaktion auf die recht schnelle Produktion von Again? Gibt es im Rückblick ein paar Dinge, die ihr am zweiten Album ändern würdet?

Jakob: Vielleicht. Zugleich kann ich mich aber immer wieder darauf besinnen, wie es sich anfühlte, als diese Platte fertig war. Ich weiß, dass ich einhundert Prozent davon überzeugt war, und ich bin immer noch glücklich mit Again. Dass man im Rückblick trotzdem Dinge erkennt, die man gerne verbessern würde, ist ja auch kein Nachteil. Es zeigt, dass man noch neue Ideen hat und nicht bloß noch Again 2, Again 3 und Again 4 machen kann, also letztlich auf der Stelle tritt.

Lennart: Ich denke, dieses Problem haben eher Künstler*innen, die sehr zögerlich Musik veröffentlichen. Bei uns ist das nicht so, wir sind da eher ungeduldig: Wir lieben es, Musik zu schreiben, und sie soll dann auch gleich raus. Wir wollen immer etwas Neues machen und schreiben jetzt auch schon an der nächsten Platte. Wenn du 15 Jahre brauchst, um dein Debüt rauszubringen, dann soll diese Platte natürlich auch 15 Jahre repräsentieren, und dann ist die Gefahr vielleicht größer, dass man später damit unzufrieden ist, wenn ein Album das nicht mehr leistet. Bei uns ist das anders. Unsere Alben stehen für ein Jahr, für einen bestimmten Zeitpunkt und Moment in unserem Leben.

Ihr hattet ursprünglich mal gesagt, das dritte Album sollte wieder einen Ein-Wort-Titel bekommen. Jetzt könnt ihr es ja verraten: Welches Wort hattet ihr denn da im Sinn?

Jakob: Looping. Aber das war eigentlich als EP geplant.

Lennart: Wir wollten auch eine Tour mit diesem Titel spielen. Aber dann mussten wir ja bekanntlich umplanen.

Complex Happenings Reduced To A Simple Design Leoniden
„Complex Happenings Reduced To A Simple Design“ erscheint am 20. August.

Den neuen Titel Complex Happenings Reduced To A Simple Design kann man vielleicht als Umschreibung für den Prozess interpretieren, wie Liebe funktioniert. Oder wie ein Popsong funktioniert. Es ist aber auch das Prinzip, mit dem Populismus arbeitet. Ist das eine gewollte Konnotation?

Jakob: Nein. Es geht tatsächlich eher um Liebe. Jeder hat ein anderes Verständnis davon, jeder meint etwas anderes mit dem Gefühl, das er dann in die Schublade „Liebe“ steckt. Der Titel ist auch eng mit dem Albumcover verknüpft, das eine brennende Welt zeigt: Niemand kann erklären, warum die Welt brennt oder wie sie gelöscht werden könnte. Die Prozesse, die das auslösen, sind sehr kompliziert. Aber die Diagnose ist ganz einfach: Die Welt ist im Arsch. Diese Aussage ist sicher neu für uns.

Lennart: Wir haben uns diesmal ein bisschen aus unserer Welt heraus gewagt. Statt so selbstreferenziell zu sein wie auf den ersten beiden Platten, haben wir die Türen und Fenster weit aufgemacht, um mal zu gucken, welche anderen Themen es geben kann. Natürlich sehen wir, was los ist in der Welt. Aber wir haben aber auch gemerkt, dass es sauschwer ist, gesellschaftliche Themen in unserer Musik zu behandeln. In drei Minuten, mit ein paar Strophen und einem Refrain, ist es enorm schwierig, den richtigen Ton zu treffen und nicht bloß Plattitüden abzusondern. Wir sind politische Menschen, das waren wir auch schon vor zwei Jahren und vor vier Jahren. Jetzt haben wir den Mut gehabt, das auch etwas stärker zu zeigen. Wir sind jetzt vielleicht auch besser dazu in der Lage, weil wir uns weiterentwickelt haben. Trotzdem ist uns dabei klar geworden: Du musst ganz viel Kompliziertes, über das andere Leute stundenlange Vorträge halten, auf ein paar Minuten reduzieren. Und damit wird es knifflig.

Ich staune immer wieder, wenn sich Leute beispielsweise in Interviews mit euch überrascht zeigen, dass ihr politisch seid und euch für Flüchtlinge engagiert oder bei Fridays For Future spielt. Euer Hintergrund und eure Einstellung sind doch eigentlich nicht zu übersehen, auch früher schon.

Lennart: Unser Background ist da wirklich ziemlich eindeutig, und manchmal wundern wir uns bei solchen Erfahrungen auch. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir es niemandem ins Gesicht gerieben haben. Wir können uns auch engagieren, ohne da gleich eine Kampagne draus zu machen.

Jakob: Ich denke auch, dass das eigentlich klar ist: Ohne die linke Szene gäbe es uns gar nicht.

Könnt ihr euch vorstellen, dass es diesen Effekt auch bei Fans gibt? Dass jemand die Lieder mag und ins Konzert kommt, aber gar nicht weiß, wofür Leoniden stehen?

Jakob: Das kann schon sein, dass es Leute gibt, die Kids in irgendeiner Playlist gehört haben, und dann zur Show kommen ohne großen Hintergrund. Das ist ja auch okay. Mein Eindruck ist aber, dass unser Publikum uns da relativ nah ist. Wir brüllen zwar nicht „Verpisst euch, ihr Faschos!“ auf der Bühne wie etwa Feine Sahne Fischfilet. Aber uns ist wichtig, dass wir politische Menschen in der Band haben, dass wir eine Haltung haben, auch abseits der Bühne. Wir achten darauf, dass sich die Leute in der Leoniden-Bubble wohlfühlen können. Natürlich würden wir aber sofort etwas sagen und einschreiten, wenn unsere politischen Alarmglocken angehen, wenn jemand ein rechtsradikales Shirt trägt oder wenn es Übergriffe im Publikum gibt. Wir sind die letzte Band, die da die Schnauze hält.

Lennart: Ich denke, wir haben da großes Glück mit unserem Publikum, und ich fühle mich sehr, sehr wohl mit unseren Fans. Das sind ziemlich coole Leute, alles ist sehr freundschaftlich. Deshalb glaube ich auch, dass es sich relativ schnell von alleine klären würde, wenn doch mal ein Idiot dazwischen stehen sollte.

Das passt zu meinen Erfahrungen bei euren Konzerten: Es geht da auch sehr viel um Empowerment, um einen konstruktiven Ansatz, der ins Publikum hineinwirkt und dann wieder zurück auf die Band. Vielleicht ist so etwas am Ende auch stärker als eine plakative Textzeile in einem Song oder ein Titel, den man sich auf einen Button drucken kann.

Jakob: Genau. Wir wollen dafür eine passende Atmosphäre schaffen. Ich habe kürzlich gesagt, dass Leoniden euphorische Musik für melancholische Menschen machen, und das umschreibt auch diesen Effekt. Wir haben ein sehr empathisches Publikum und alle achten aufeinander.

Lennart: Wir werden zwar oft als heiter oder poppig wahrgenommen, aber natürlich haben wir alle auch schon Tiefpunkte erlebt. Ich habe den Eindruck, dass die Fans dieses Element von Schmerz und Ernsthaftigkeit gut erkennen und gut verstehen. Das ist ja das Größte, was uns passieren kann.

Ist es einfacher, sich in einem Text wie bei Blue Hour, das von Panikattacken und Depression handelt, mehr zu öffnen und mehr zu offenbaren, wenn man so ein mitfühlendes und verständnisvolles Publikum hat?

Jakob: Ja. Das ist zugleich eine spannende Frage, was es mit uns machen würde, wenn wir ein total empathieloses Publikum hätten.

Lennart: Wir würden dann wahrscheinlich nicht mehr auf die Bühne gehen.

Jakob: Stimmt, dann wäre es vorbei. Dann ginge es nicht mehr.

Ihr seid da also mutiger geworden?

Jakob: Ja. Trotzdem hat ein Song wie Blue Hour zwei Alben gebraucht.

Lennart: Wir wissen, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass da Leute sind, die zum Konzert kommen, unsere Musik verstehen und die Songs mitsingen. Und natürlich haben wir auch Schiss, wenn wir neue Sachen probieren und nicht wissen, ob die Leute das geil finden. Das ist vor jeder Platte so, bei jeder Single. Da haben wir Schweiß auf der Stirn. Es ist schön, wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass die Leute bereit dafür sind. Dass man nicht mehr so kryptisch sein muss.

Zum Schluss nochmal eine Corona-Frage: Bis zur Pandemie ging es für Leoniden eigentlich immer nur bergauf, alles verlief wie im Bilderbuch. Die Zwangspause war dann der erste Rückschlag. Was wird vielleicht einmal die Lehre sein, die ihr aus dieser Zeit ziehen werdet?

Jakob: Zunächst hatten wir noch von Monat zu Monat gehofft, dass es bald weiter geht. Für mich war wichtig, irgendwann anzuerkennen, dass man das nicht beeinflussen kann. Es war für mich das erste Mal seit zehn Jahren, dass ich eine richtige Pause von der Musik hatte. Und ich habe irgendwann gemerkt: Ich fühle mich auch ohne Musik wie ein würdiger Mensch. Auch wenn ich nur mit meiner Freundin auf dem Sofa sitze und Serien gucke. Das war krass und eine wichtige Erfahrung, die ich auf jeden Fall aus dieser Pandemie mitnehme. Weil ich durchaus Schiss davor hatte, dass ich meinen Selbstwert zu stark über die Musik und das Feedback des Publikums definiere und dann ohne die Konzerte irgendwann auseinanderfalle.

Lennart: Ich finde es im Nachhinein bemerkenswert, wie wir damit umgegangen sind, dass zum ersten Mal etwas nicht wunschgemäß gelaufen ist. Bis dahin war es immer so gelaufen, dass wir einen Plan gemacht haben, und der dann auch geklappt hat, meist sogar besser als gedacht. Corona war zum ersten Mal ein Moment von „Fuck, Leute, jetzt geht es nicht weiter.“ Dass wir das überstanden haben, hat uns gestärkt. Es hat gezeigt, dass wir nicht von Erfolgserlebnissen abhängig sind, sondern auch einen Rückschlag überstehen können. Wir wissen jetzt, dass wir krisenfest sind, und wir sind noch ein bisschen flexibler geworden, weil wir uns jetzt nicht nur beim Upgrade in größere Hallen anpassen können, sondern auch bei ungewollten Einschränkungen.

Jakob: Das stimmt. Aber es steckte vielleicht auch schon immer in uns. Es gibt ja jeden Tag kleine Rückschläge, auch schon vor Corona. Wir haben das Judo-mäßig immer in Ideen und Energie umgewandelt. So haben wir eben die Idee mit den Medleys bei Instagram entwickelt, oder die Corona-Zeit genutzt, um unser Studio aufzubauen und das Album aufzunehmen.

Lennart: Trotzdem kann ich jede Band verstehen, die diese letzten anderthalb Jahre nicht weggesteckt hat oder an der Situation verzweifelt. Es gibt massenhaft Leute da draußen, die sich verschuldet haben, um ihre erste Platte aufzunehmen, und jetzt können sie die nicht rausbringen und nichts verkaufen. Wir wissen, dass wir da in einer privilegierten Position sind, weil wir ein Polster hatten und einen Punkt erreicht hatten, an den wir jetzt wieder anknüpfen können. Hätte uns diese Pandemie zwei Jahre vorher erwischt, wäre der Effekt vielleicht auch ganz anders gewesen.

Gab es während der Corona-Zeit mal einen Punkt, wo ihr gesagt habt: Wenn das noch ein Jahr so weiter geht, dann war’s das für Leoniden?

Lennart: Nein. Das stand nie zur Debatte.

Jakob: Wenn der Lockdown noch ein halbes Jahr länger gewesen wäre, hätten wir uns wieder Jobs suchen müssen. Aber mit der Musik hätten wir auf jeden Fall auch dann weitergemacht.

 

Die nächsten Shows von Leoniden:

04.08. Leer, Zollhaus (ausverkauft)
05.08. Bad Zwischenahn, Musik auf Lücke
13.08. Berlin, Picknick Konzert
19.08. Kiel, Together Kiel

Die nächsten Picknick-Konzerte auf dem Agra-Gelände:

24.07. Gentleman
25.07. Von Wegen Lisbeth
29.07. Vincent Weiss

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.