Welche ist denn nun die Welthauptstadt des Pop? Konnte eine Band wie Kraftwerk nur in Düsseldorf entstehen? Wieso klingt der Soul aus Detroit anders als der aus Memphis? Solchen Fragen gehen die Journalisten Philipp Krohn und Ole Löding in ihrem Buch Sound Of The Cities nach. Sie sind dazu in diverse Pop-Metropolen gereist und haben mit wichtigen Protagonisten gesprochen – Aushängeschildern, Newcomern und Strippenziehern. Entstanden ist, so hat Die Zeit das genannt, „eine ganz eigenständige popmusikalische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Ich habe Philipp Krohn, geboren 1977 in Hamburg und heute im Hauptberuf Wirtschaftredakteur bei der FAZ, per Mail befragt, wie das Buch zustande kam, wie die Gentrifizierung musikalische Kreativität gefährdet – und warum Leipzig so weit davon entfernt ist, eine Pop-Metropole zu sein.
London, Ontario hat uns Justin Bieber, die schlimme Synth-Rock-Band The Birthday Massacre und die rein weibliche Heavy-Metal-Band Kittie beschert. Nach den Recherchen in 24 wichtigen Städten der Musikgeschichte müssten Sie eigentlich beantworten können: Was läuft bloß verkehrt in dieser Stadt?
Philipp Krohn: Es ist immer sehr schwer etwas zu beantworten, was man nicht recherchiert hat. Ich kenne London/Ontario nicht aus eigener Anschauung. Was man aber sicherlich etwas genereller sagen kann: Außerhalb der Metropolen entwickeln sich Genres langsamer. Der Geschmack ist häufig weniger elaboriert und elitär, sodass man dort mit Sounds Erfolg haben kann, die in den großen Popzentren als anachronistisch oder schlechter Geschmack gelten würden. Talent aber kann natürlich überall entstehen. Oft zieht es die spannenden Typen in die Großstadt, um sich dort auszuprobieren. Ein Beispiel ist Justin Bieber, der erst in seinem heutigen Wohnort Los Angeles zum Superstar wurde.
Gab es eine Stadt, die Sie für Sound Of The Cities gerne besucht hätten, aber auslassen mussten? Wenn ja, welche und warum?
Krohn: Natürlich hätten wir eine Reihe von Städten gern besucht. Allen voran Atlanta, Dublin, Reykjavik, Sydney, die bedeutende Musikmetropolen sind und jede für sich genommen eine super spannende Geschichte für ein eigenes Kapitel hergegeben hätte. Aber wir sind ja beide nicht hauptberuflich in das Projekt gegangen, sondern haben das Buch neben unserem regulären Beruf begonnen, ich dazu noch als Vater von zwei kleinen Kindern, die überhaupt erst die berufliche Auszeit und das gemeinsame Reisen erlaubt haben. Kurz gesagt: Zeitliche, finanzielle und konzeptionelle Ressourcenbeschränkungen haben uns zu einem Do-it-yourself-Ansatz gezwungen, der schon für sich genommen einen eigenen Charme hat. Deshalb wundert uns auch, wenn einige Rezensenten gerade das blöd finden.
Welcher Gesprächspartner war die größte Überraschung?
Krohn: Das ist bei 160 Interviewpartnern sehr schwer zu beantworten. Überraschend waren viele in ihrer unfassbaren Gastfreundschaft und Aufgeschlossenheit für das Projekt. Wir saßen bei Hippie-Größen wie John Sebastian, Al Kooper, Doug Yule oder Nick Gravenites im Wohnzimmer, bei Friska Viljor und Stef Kamil Carlens im Übungsraum. Überraschend im Sinne von „keine Vorstellung gehabt und hinterher ganz begeistert“ war ich von Sherman Willmott, dem Gründer des Plattenlabels Shangrila Projects in Memphis. Ich kenne keinen Menschen, der die lokale Musikkultur so systematisch erfasst hat, so großartig darüber erzählen kann und selbst noch so wichtige Anstöße zur Wahrung der Tradition (zum Beispiel beim Aufbau des Stax-Museums) gegeben hat.
Und welche Stadt hat – jenseits der Musik – als Reiseziel am meisten überrascht?
Krohn: Für mich waren Seattle und Birmingham bemerkenswert. Seattle hat den Ruf, grau und trist zu sein und auch deshalb so wütende Musik hervorgebracht zu haben. Ist man vor Ort (und hat das Glück, drei Sonnentage zu erleben), zeigt sich eine sehr lebendige, schöne Stadt voller Lebensqualität direkt an den Fjorden inmitten einer tollen Natur. Birmingham hätte ich mir als gesichtslose Industriestadt vorgestellt. Aber die Innenstadt ist sehr sehenswert und voller Kultur.
Das Problem der Gentrifizierung taucht in Sound Of The Cities immer wieder auf. War von vorneherein klar, dass das ein wichtiges Thema des Buchs sein würde? Oder hat sich das erst im Laufe der Recherche als Leitmotiv herausgestellt?
Krohn: Wir kannten ja einige Städte wie Hamburg, Köln, Berlin und Paris schon vorher sehr gut. Deshalb waren wir uns bewusst, dass uns das Problem begegnen würde. Wir haben in sehr vielen Gesprächen von uns aus nach ihren Auswirkungen gefragt, oft wurde das Thema aber auch von den Interviewpartnern selbst angesprochen. Insgesamt zeigt sich, dass das Problem eigentlich ganz intuitiv zu beschreiben ist: Dort wo der Arbeitsmarkt gut läuft, hohe Gehälter gezahlt werden und der Wohnraum begrenzt ist (New York, London, Paris etwa), ist auch die Aufwertung von Stadtvierteln weiter fortgeschritten. Dort wo es sozial schwieriger ist (Detroit, die britischen Industriestädte), bestehen auch weiterhin mehr Freiflächen für künstlerische Experimente.
Das potenzielle Publikum für Sound Of The Cities sind wahrscheinlich leidenschaftliche Musikfans, also notorische Nörgler und Besserwisser (ich schließe mich da ein). Wie war denn bisher das Feedback zum Buch? Gab es viele Anmerkungen à la: Diese Stadt ist überbewertet, diese Band hätte erwähnt werden müssen, dieser Musiker wäre der ultimative Gesprächspartner gewesen?
Krohn: Ehrlich gesagt, haben wir das bislang kaum erlebt. Man kann es in etwa so aufteilen: Freunde, Musikfans, Künstler, Plattensammler sind total begeistert, weil wir die ersten sind, die eine solche Reise gemacht und darüber geschrieben haben. Radiojournalisten sind angetan, vielleicht weil sie sich schnell emotional in das Projekt eindenken können und die Musik leben. Genörgelt wird eher von akademisch orientierten Journalisten oder Anhängern des Diederichsen’schen Popdiskurses. Unser Ziel war es von Anfang an, für ein breites Publikum zu schreiben, keine wissenschaftliche Studie zu verfassen, sondern subjektive, für alle verständliche und spannend lesbare Porträts der Städte zu entwerfen. Dass ein paar wenigen Rezensenten dadurch der akademische Meta-Diskurs fehlt, können wir verstehen. Dem entgegnen wir: Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlich tiefgreifenden Einzeluntersuchungen zu „Urbanität und Stadt“, die sich mit diesen theoretischen Fragen beschäftigen. Wer unser Buch liest, findet dazu sowohl in den Stadtkapiteln als auch in der angehängten Literaturliste eine Vielzahl von weiterführenden und empfehlenswerten Texten. Und dass die Auswahl der Musiker subjektiv ist, liegt doch in der Natur der Sache und im Zufall begründet. 400 mögliche Gesprächspartner haben wir angeschrieben, 160 haben mitgemacht. Uns war es wichtig, Pioniere wie den leider gerade verstorbenen Allen Toussaint, Mark Chung von den Einstürzenden Neubauten oder Marc Mac von 4Hero im Buch zu haben – und nicht die großen Stars.
Eine Frage aus lokalpatriotischen Gründen: Leipzig war erwartungsgemäß keine Station auf Ihrer Rundreise durch die Popmetropolen der Welt. Trotzdem: Wie ist Ihre Wahrnehmung der Musikszene in der Stadt?
Krohn: Uns ist schon aufgefallen, dass es dort eine aufregende Elektronikszene gibt. Viel tieferen Einblick habe ich aber noch nicht nehmen können. Ich bitte um Nachsicht: Als Familienvater hat das Leben doch einen etwas anderen Fokus.
Prägen Städte auch Autoren und Journalisten? Würden Sie anders schreiben, wenn Sie nicht in Hamburg aufgewachsen wären oder nicht in Heidelberg studiert hätten?
Krohn: Wie mit der Musik gibt es hier natürlich ganz globale Einflüsse: Welche Bücher haben einen beeindruckt, welchem Journalisten eifert man nach, welche Schulen ist man selbst durchlaufen? Aber natürlich beeinflusst das, was man gesehen hat, auch die Art, wie man darüber schreibt. Ich kann Hamburg nicht ablegen, und Heidelberg hat mich total geprägt.
Am Ende muss natürlich die Frage nach dem Superlativ kommen: Welche Stadt ist denn nun die aktuelle Musikhauptstadt der Welt? Und welche könnte die künftige sein?
Krohn: An London kommt nach wie vor keine andere Stadt vorbei: James Blake, Jon Hopkins, FKA Twigs, Caribou – da passiert so viel an Innovation. Aber die Stadt ist mehr als andere gefährdet von dem, was wir vorher besprochen haben: Gentrifizierung, überzogener Reichtum, der Freiräume verengt. Aktuell sind Stockholm, Austin und Wien sehr beweglich und spannend, Nashville verspricht einiges, weil inzwischen nicht mehr der Country-Mainstream dominiert, sondern junge einfallsreiche Künstler ihren Weg suchen.